Tagebuch von S. G. Vinekar

Tagebuch von S. G. Vinekar

Tagebuch eines Mitarbeiters des Radio Farm Forums, Poona (Indien) 1956
Roter Festeinband in Leinenoptik, gebunden
Maße: H 19 cm x B 13 cm
Buchdeckel mit schwarzem Aufdruck "National Diary" und "1956"
Aus dem Paul F. Lazarsfeld-Archiv


Das Tagebuch wurde im Rahmen eines der größten zum damaligen Zeitpunkt je in einem Entwicklungsland umgesetzten Massenkommunikations-Experiment mit erzieherischem Hintergrund verfasst und befindet sich heute im Nachlass des Soziologen und Statistikers Paul Martin Neurath (1911–2001). Am Buchrücken wurden handschriftlich der Name des Interviewers (S. G. Vinekar) sowie der Verwaltungseinheit, in der das Experiment stattfand (Poona), vermerkt. Auf der Buchdeckel-Innenseite besteht die Möglichkeit, persönliche Daten (Adresse etc.) einzutragen. Im vorliegenden Objekt wurden Name, Anschrift, Telefonnummer sowie Gewicht und Größe angegeben. Auf den ersten Seiten finden sich wichtige Informationen, wie etwa amtliche Telefonnummern und Maßeinheiten, abgedruckt. Die folgenden linierten Seiten entsprechen einem Tageskalender. Pro Seite sind Tag, Monat, Jahr sowie die Tagesanzahl des jeweiligen Monats angegeben. Im vorliegenden Tagebuch reicht das Kalendarium von Jänner 1956 bis 22. Mai 1956, die restlichen Seiten fehlen.

Der Versuch wurde 1956 von der Radiostation Poona der "All India Radio" im damaligen Bundesstaat Bombay durchgeführt und vom Ministerium für Information und Rundfunk gefördert. Das "Tata Institute of Social Sciences" in Bombay (heute: Mumbai), wo Paul Neurath im Rahmen einer Fulbright-Professur Sozialwissenschaften unterrichtete, wertete die Daten aus. Die Leitung des Projektes übernahm Neurath zunächst gemeinsam mit seinem indischen Kollegen A. M. Lorenzo, später alleine. Neurath hatte an der Columbia University Soziologie und Statistik unter anderem bei Paul Felix Lazarsfeld (1901–1976) studiert und war an dessen "Office of Radio Research" als Mitarbeiter tätig gewesen. Bei der Projektdurchführung konnte Neurath daher auf zahlreiche Erfahrungen im Bereich der Massenkommunikationsforschung zurückgreifen.

Ausgangspunkt der Untersuchung bildeten die intensiven Bemühungen der Regierung des 1947 eben erst zur Unabhängigkeit gelangten Staates Indien, die Lebenssituation der Landbevölkerung grundlegend zu verbessern. In diesem Zusammenhang regte die UNESCO Ende 1955 an, in den Dörfern Hörergruppen zu organisieren, die gemeinsam spezielle Radiobildungsprogramme über Agrartechniken, Hygienemaßnahmen, usw. hören und deren Inhalte anschließend diskutieren sollten. Diese so genannten "Radio Farm Forums" hatten in Kanada bereits vielversprechende Erfolge erzielt. Ob die dort angewandten Methoden der Wissensvermittlung jedoch auch unter den Rahmenbedingungen in Indien (hohe Analphabetenquote, fehlende technische Ausstattung, etc.) oder anderen Entwicklungsländern erfolgreich umgesetzt werden konnten, war fraglich und sollte daher in einem groß angelegten Experiment untersucht werden. So wurden im Frühjahr 1956 im Marathi-sprechenden Teil des damaligen Bundesstaates Bombay permanente, organisierte Hörergruppen zu je 20 Mitgliedern in 150 Dörfern eingerichtet. Diese trafen sich zwei Mal in der Woche, hörten für diesen Zweck produzierte Sendungen und diskutierten hinterher die gehörten Inhalte.
Im Rahmen der Untersuchung wurden Forum-Mitglieder von 20 Dörfern des Experiments und Nicht-Forum-Mitglieder von 20 Kontrolldörfern (zehn mit und zehn ohne Radiogeräte) zu bestimmten Zeitpunkten über ihr Wissen befragt. Die Interviewer beobachteten zudem die Diskussionen, füllten Formblätter über die organisatorische Wirksamkeit des Forums aus und führten ausführliche Tagebücher über ihre persönlichen Eindrücke, wie beispielsweise das hier vorliegende.

Das Experiment war in Paul Neuraths eigenen Worten ein "Riesenerfolg". Die Forenmitglieder wiesen am Ende einen stark verbesserten Wissensstand auf. Damit zeigte sich gerade im Vergleich mit den Radio besitzenden Kontrolldörfern ohne Forum die entscheidende Rolle der organisierten Hörergemeinschaften und der gemeinsamen Diskussionen. Darüber hinaus kam es in zahlreichen Dörfern mit "Radio Farm Forum" zu einer erheblichen Aktivitätssteigerung: es wurden Bücher zum Erwerb von Lese- und Schreibkenntnissen angeschafft, Brunnen umgestaltet und das Wasser zur Vermeidung des Guinea- oder Medinawurms desinfiziert. Auf Grundlage der Untersuchungsergebnisse wurden bis 1962 in insgesamt 9.000 Dörfern "Radio Farm Foren" eingerichtet. In Planung standen zu diesem Zeitpunkt bereits weitere 11.000.

Im Rahmen der Tagebuchtage 2011 zeigt die Fachbereichsbibliothek Soziologie & Politikwissenschaft am 9. November 2011 ab 19 Uhr den Film "Einstweilen wird es Mittag" nach der Studie "Die Arbeitslosen von Marienthal".
Einleitende Worte: Drehbuchautorin Heide Kouba

Anlässlich des 35. Todestages von Paul F. Lazarsfeld sowie des 100. Geburtstages und 10. Todestages von Paul M. Neurath findet am 26. November 2011 von 9.00–16.00 Uhr an der Fachbereichsbibliothek für Soziologie und Politikwissenschaft die Fachtagung "Archive als Elemente wissenschaftlicher Infrastruktur" statt.

Tagungsprogramm (pdf)

Literatur:

NEURATH, Paul und J.C. Mathur: An Indian Experiment in Radio Farm Forum (Paris: UNESCO 1959).
NEURATH, Paul: Die Verwendung des Rundfunks bei der Erwachsenenbildung in indischen Dörfern. In: Rundfunk und Fernsehen 7, H. 1 (1960), S. 33-40.
NEURATH, Paul: Radio Farm Forum. In: The March of India 9, Nr. 10 (Oktober 1957), S. 33-35.
OBERFORSTER, Christina: Life was so full. Leben und Werk von Paul M. Neurath unter besonderer Berücksichtigung der Forschungsprojekte in Indien (Diss. Wien, 2006). Exemplar im Bestand der UB Wien
FELDER, David: Zwischen Optimismus und Pessimismus. Paul Martin Neuraths wissenschaftliche Beiträge zum Diskurs über das Wachstum der Weltbevölkerung (Dipl. Arb. Wien 2006). Exemplar im Bestand der UB Wien

Text: Anna Spitta, Foto: Claudia Feigl