100.000 Kronen, ausgegeben am 2. Jänner 1922 von der Österreichisch-Ungarischen Bank
Papier, Karton, Holz, Glas, Tinte
Maße (Rahmen): ca. 26 x 19,5 cm
Aus der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen
Vier Randbeschriftungen auf der Rückseite des Rahmens:
Im Jahre 1923 hat meine Mutter diesen Geldschein mir nach
Holland gesendet. Ich habe den Schein nie eingewechselt.
Ich habe meine Mutter, nachdem ich 1921
im Jänner ausgewandert bin, nicht wieder
gesehen - sie starb - auch der Vater.
Im Jahr 1976, das sind 56 Jahre später, ließ ich diesen
Schein einrahmen. Ich selber bin am 5. März 1976 83 Jahre
geworden.
Frau Karolina Weiss, geborene Kittl
Korneuburg 27. April 1976
Zehn Jahre nachdem die Zeilen auf die Rückseite des hier gezeigten Bilderrahmens geschrieben wurden, verstarb ihre Verfasserin im 94. Lebensjahr. Ihre einzige, 1920 geborene Tochter Luzie starb 2002 ohne Nachkommen. Nur der Achtsamkeit und dem historischen Interesse entfernter Verwandter ist es zu verdanken, dass einige Schriftstücke, Fotos, amtliche Dokumente und Objekte bis heute aufbewahrt und aufgrund ihres persönlichen Erinnerungswerts geschätzt werden, wie dieser subjektiv offenbar sehr bedeutungsvolle Geldschein. Er wurde am 2. Jänner 1922 noch von der Österreichisch-Ungarischen Bank ausgegeben, die erst ein Jahr später von der Österreichischen Nationalbank als Notenbank der Republik Österreich abgelöst werden sollte.
Im Sommer 1923, als Karolina Weiss (1893–1986) diesen Geldschein von ihren Eltern erhielt, verbrachte sie ihr drittes Jahr in Holland. Am frühen Morgen des 1. Jänners 1921 hatte sie ihre Eltern, ihre jüngeren Geschwister und ihre drei Monate zuvor in München geborene Tochter in der Obersteiermark zurückgelassen. Der Vater des Kindes, der um fünf Jahre jüngere Sattlergeselle Josef Weiss, lebte andernorts im Salzburger Flachgau. Wenige Tage nach der Geburt des Kindes hatte er jedoch eine Aufenthaltserlaubnis für 24 Stunden erhalten und damit zur Eheschließung anreisen können, die direkt in der Münchner Frauenklinik erfolgte. Ihre eigene wie auch die Lebenssituation all ihrer Angehörigen war in der Nachkriegszeit so prekär, dass Karolina Weiss vor allem für ihr Neugeborenes keine andere Überlebenschance sah, als einen Neubeginn in einem von den Folgen des Ersten Weltkrieges nicht betroffenen Land zu wagen. Über Beziehungen ihrer früheren Münchner Dienstgeberin konnte sie eine Einreiseerlaubnis in die Niederlande erlangen.
"Wenn ich verhindern will, dass auch mein Kind verhungert, so wie tausend andere [...] Ich habe Zwillinge gesehen, die meiner Nachbarin, sie sind neun Monate alt. Wenn man sie ansieht, gruselt einem der ganze Jammer dieser Nachkriegszeit und ihrer ganzen Gemeinheit eiskalt über den Rücken [...] Zu Hause arbeiten alle, der Vater, die Schwester, die Brüder - aber alles Mühen ist vergeblich. Zehner, Hunderter, Tausender - bald rechnen wir in Millionen [...] Die Bauern streiken, sie liefern keine Milch mehr, weil das Bier im Preis höher steht als die Milch. Die Säuglinge und die alten Menschen sterben wie die Fliegen. Man begräbt sie haufenweise - und immer ist es ein Esser weniger.
Ich habe Tag um Tag auf einen Brief aus Holland gewartet, und jetzt ist er da, dieser Brief. Durch die Vermittlung von Sonjas Gatten konnte ich nach Holland reisen. Ich war eingeladen und das Weitere würde sich finden."
Der Textauszug stammt aus den romanartig abgefassten Lebenserinnerungen von Karolina Weiss, die sie nach ihrer Rückkehr aus den Niederlanden in den frühen 1940er Jahren zu Papier gebracht hatte. Sie erzählt darin von ihrer Kindheit in einer kinderreichen ländlichen Arbeiterfamilie im Pinzgau und von ihrer Jugendzeit, die sie mit Anstellungen in Nord- und Südtirol sowie als "Kinderfräulein" einer adeligen Familie vor allem in München verbrachte. Das Ende des Ersten Weltkrieges erlebte sie in der Obersteiermark, wo sie mit ihrer jüngeren Schwester eine Zeitlang eine Schutzhütte im Dachsteingebiet betrieb, nach Kriegsende aber keine Existenzchancen mehr für sich sah. Nach etwa einem halben Jahr konnten zuerst Tochter Luzie und kurz darauf auch Ehemann Sepp nach Amsterdam nachkommen; später wurde auch noch der uneheliche Sohn ihrer Schwester als Ziehkind aufgenommen.
In einer stärker diaristisch gehaltenen handschriftlichen Erstfassung von Karolina Weiss' Lebensaufzeichnungen findet der 100.000-Kronen-Schein in einer Eintragung vom 23. August 1923 Erwähnung. Ihre Eltern hatten ihn sich offenkundig vom Mund abgespart, aber in Amsterdam wurde er nie eingewechselt, sondern als "Glückspfand" aufbewahrt. Dies, obwohl sich gleich danach die Notiz findet:
"Im August '23 hat es Tränen gegeben; der Wind hatte für 30 Gulden Fenster zerschlagen. Wohl ein schwerer Posten im Guldenkrieg, wo es ohnehin so viele Niederlagen gab."
Ob Karolina Weiss ihre Schadensrechnung im Sommer 1923 mit diesem Geldschein hätte begleichen können bzw. was konkret sie in Holland darum hätte kaufen können, lässt sich nur schwer bestimmen.
In Österreich waren die Verbraucherpreise in der Zeit von 1914 bis 1921 pro Kalenderjahr kontinuierlich etwa um das Doppelte gestiegen. Bis Sommer 1922 beschleunigte sich die Teuerung sogar auf bis zu 100 Prozent pro Monat, bevor die Hyperinflation im Herbst 1922 durch eine vom Völkerbund gestützte Staatsanleihe eingedämmt und die Währungsentwicklung vorerst etwa auf dem Niveau der Vorjahre konsolidiert werden konnte. Hätte man zum Ausgabetermin der Banknote im Jänner 1922 damit in Österreich beispielsweise noch 300 Kilogramm Mehl kaufen können, war sie ein Dreivierteljahr später nur noch 9 Kilo Mehl oder ungefähr ein Herrenhemd wert. In puncto Kaufkraft entsprachen 100.000 Papierkronen des Jahres 1923 nicht einmal ganz jener von 10 Friedenskronen des Jahres 1914. Bei der Einführung der Schillingwährung im März 1925 galt dann ein Wechselverhältnis von 10.000 Kronen zu 1 Schilling. Wäre Karolina Weiss zu dieser Zeit nach Österreich zurückgekehrt, hätte sie den Geldschein also gegen zehn neue Schillinge einwechseln können, die heute einer Kaufkraft von rund 36 Euro entsprechen würden.
Tatsächlich kehrte die Familie erst aufgrund der politischen Entwicklungen im Jahr 1939 in das ehemalige Österreich zurück. Während der Kriegsjahre arbeitete Karolina Weiss dann ihre streckenweise tagebuchartigen persönlichen Erinnerungsnotizen zu einem autobiografischen Romanmanuskript von knapp 300 engzeiligen Maschinschreibseiten um, das mit der Umbruchsituation zu Ende des Zweiten Weltkriegs endet. Das Kriegsende erlebte sie auf sich allein gestellt in Korneuburg, wo sich die Familie niedergelassen hatte. Wie schon in Holland bestritt sie auch hier den Unterhalt mit einer eigenen Schneiderei. - Die Erfahrungen rund um das Kriegsende 1945 und in den Jahren danach hielt Karolina Weiss nach 1955 in einem zweiten 135 A4-Seiten umfassenden Typoskript mit dem Titel "Krieg - Soldaten - und Frauen. Korneuburg 1945-1955" fest.
Die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen verfügt über Fotokopien bzw. Digitalisate aller genannten Dokumente; die Originale befinden sich überwiegend in Privatbesitz und zum Teil im Stadtarchiv Korneuburg .
Karl BACHINGER: Eine stabile Währung in einer instabilen Zeit. Der Schilling in der Ersten Republik, in: Karl Bachinger u. a.: Abschied vom Schilling. Eine österreichische Wirtschaftsgeschichte, Graz-Wien-Köln 2001, S. 11-134. Exemplar im Bestand der UB Wien
Christian BEER, Ernest GNAN, Maria Teresa VALDERRAMA: Die wechselvolle Geschichte der Inflation in Österreich, in: Monetary policy & the economy : quarterly Review of economic policy, Q3-Q4/2016, S. 14-16. Zeitschrift im Bestand der UB Wien
Karolina WEISS: "Auch der Mut will gelernt sein!", in: Peter EIGNER/Günter MÜLLER (Hg.): Hungern - Hamstern - Heimkehren. Erinnerungen an die Jahre 1918 bis 1921, Wien-Köln-Weimar 2017, S. 246 f. = Damit es nicht verlorengeht ... Bd. 69 Exemplar im Bestand der UB Wien
100 JAHRE LEBEN UND WOHNEN IN WIEN. Von der Großmutter zum Enkel, Arbeitsheft zur Ausstellung, 6. Aufl., Wien 2011, S. 34. Hg. Österreichisches Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum. Elektronischer Text
Text und Fotos: Mag. Günter Müller