Höhlenbärenschädel aus der Drachenhöhle von Mixnitz (Stmk.)
Aus der Paläontologischen Sammlung
Die Beschriftung durch die Ausgräber lautet:
"F. 32.
Zone 23-24. Nördlich der hier sehr
überhängenden Wand. 2 m tief
31. III. 1921"
Dieser Schädel stammt von Ausgrabungen des Paläontologischen und Paläobiologischen Institutes (heute Institut für Paläontologie) der Universität Wien und ist mit mehreren bemerkenswerten Aktionen und Aspekten verknüpft:
1. Die „staatliche Höhlendüngeraktion"
„In Österreich trat während des ersten Weltkrieges ein immer mehr zunehmender Mangel an natürlichen und künstlichen Düngemitteln auf. Er bewirkte einen ununterbrochenen Rückgang der Ernteerträge ... eine schlechte Düngerwirtschaft ist staatsgefährlich...eine ausreichende Bereitstellung von Phosphorsäure wird als Politikum angesehen...“ (Saar in: Abel & Kyrle 1931).
Erwägungen dieser Art durch das k.k. Ackerbauministerium haben zur Ausbeutung heimischer Phosphatlager geführt, die man (fälschlicherweise) in allen Höhlen vermutete, die große Mengen von Lehm enthalten. In der Drachenhöhle bei Mixnitz im Grazer Bergland wurde der größte Abbau von phosphathältigen Lehmen bergwerkartig mit Hunten und Seilbahn betrieben. Vom riesigen Höhlenportal wurde ein 500 Meter langes Bahngeleise in das Höhleninnere verlegt, wobei auch ein mächtiger Steinwall aus großen Blöcken („Erster Versturz“) mit einem Stollen durchfahren wurde. Das gewonnene Lehmmaterial wurde mit einer Seilbahn direkt zum Bahnhof Mixnitz transportiert. Es wurden insgesamt zwischen 200 bis 300 Eisenbahnwaggons gebrauchsfertiges Feinmaterial mit durchschnittlich 15% Phosphat verladen. Im August 1923 wurde die Höhlendüngeraktion aus wirtschaftlichen Gründen eingestellt.
2. „Paläopathologie“
Darunter versteht man die Wissenschaft von den Krankheiten fossiler Tiere. Pathologische Veränderungen kann man naturgemäß nur an erhaltungsfähigen Skelettteilen also an Knochen und Zähnen feststellen. Dieser damals noch junge Forschungsansatz der Paläobiologie fand im umfangreichen Fossilmaterial aus der Drachenhöhle ein weites Betätigungsfeld. Aus dem im Höhleninneren mit grobem Gerät abgebauten Lehmen wurden nur die besonders interessanten Höhlenbärenreste ausgemustert, das waren vor allem ganze Schädel und - bevorzugt - pathologisch veränderte Knochen und Gebissreste. Die Pathologien wurden in der 1931 erschienen Monographie ausführlich beschrieben und dokumentiert, weshalb die „Mixnitz-Monographie“ auch als Grundlagenwerk der Paläopathologie gilt.
Der hier abgebildete Schädel ist ein schönes Beispiel einer Pathologie: der Schädelbereich über dem linken Auge (Processus supraorbitale) ist wahrscheinlich durch eine Biss (eines Rivalen?) schwer verletzt worden. Aus der starken Callusbildung ist zu schließen, dass die Verletzung völlig verheilt ist.
Neben ausgeheilten Knochenbrüchen liegen zahlreiche Befunde über Knochen- und Gelenkserkrankungen wie Arthritis, Osteomyelitis, Rhachitis usw. vor, besonders häufig scheinen Erkrankungen des Gebisses (Zahnfisteln, Kiefereiterungen) gewesen sein.
3. Die „Degenerationshypothese“
Über die Gründe des Aussterbens der Höhlenbären (wahrscheinlich vor etwa 24.000 Jahren) wurde viel spekuliert. Neben den noch heute diskutierten Hypothesen wie der so genannten „over kill“-Theorie (der paläolithische Jäger hätte die Höhlenbären ausgerottet) und der Klima-Hypothese (die Höhlenbären seien durch die letzte Kaltzeit ihres Lebensraumes beraubt worden) gab es auch Überlegungen, dass Seuchen und die Häufung von ererbten Krankheiten das Ende dieser Pflanzen fressenden Bären bewirkt hätten.
Die Fundsituation in der Drachenhöhle spielt dabei eine entscheidende Rolle. Durch die selektive Entnahme von Knochen- und Gebissresten aus dem Grobmaterial des Phosphatabbaues wurden die pathologischen Stücke zahlenmäßig bevorzugt, so dass der Eindruck entstand, dass die Höhlenbären der Drachenhöhle überdurchschnittlich krank gewesen wären. Daraus entstand die Idee, dass in der Degeneration die Ursache des Aussterbens zu suchen sei. Othenio Abel (1875-1946), Lehrkanzelinhaber am Institut für Paläontologie, hat die Ausführungen seiner „Degenerationshypothese“ mit folgenden Sätzen abgeschlossen:
"So ist in letzter Linie für das Aussterben des Höhlenbären in der Würmeiszeit die Gesamtheit der günstigen Lebensbedingungen von der Kulmination der Rißeiszeit bis zum Höhepunkt der letzten Interglazialzeit verantwortlich zu machen als ein Beispiel für eine Unzahl anderer aus der Geschichte der Tierwelt, in denen der Eintritt in eine Periode besonders günstiger Umweltbedingungen zuerst zu einem Luxurieren und in engster Verbindung damit in der Folge zu einem unausbleiblichen Niedergang und schließlichen Erlöschen des ganzen Stammes führte."
Alle modernen Höhlengrabungen, die in den letzten 40 Jahren vom Institut für Paläontologie durchgeführt worden sind (z.B. in der Ramesch-, Gamssulzen-, Brieglersberg- und Brettsteinhöhle im Toten Gebirge, in der Herdengel- und Schwabenreith-Höhle bei Lunz oder in der Potocka zijalka und Krizna jama in Slowenien, schließlich in der Conturineshöhle in den Dolomiten) haben gezeigt, dass die Pathologien bei Höhlenbären nicht häufiger sind als bei heute lebenden Wildtieren, wodurch der Degenerationshypothese die Grundlage entzogen ist.
4. DNA-Analysen und Immigration
Die Bärenreste der Drachenhöhle haben auch bei der Entdeckung der Artenvielfalt der Höhlenbären eine wichtige Rolle gespielt. Schon vor mehr als 80 Jahren waren dem Wiener Paläontologen Kurt Ehrenberg (1896–1979), später o. Professor am Institut für Paläontologie, die großen Unterschiede wie Körpergröße und Evolutionsniveau der Mixnitzer Bären und der hochalpinen Bären des Dachsteingebietes aufgefallen. Er prägte den Ausdruck „hochalpine Kleinform“ für die Höhlenbären der Schreiberwandhöhle (2.250 m) im Gegensatz zur „Normalform“ der Drachenhöhle (950 m). Erst in jüngerer Zeit (zwischen 1995 und 2004) hat sich zuerst durch morphologische Befunde, dann durch DNA-Analysen herausgestellt, dass mindestens drei Arten zeitgleich in den Alpen gelebt haben. Die Bären der Drachenhöhle gehören einer Art an, die erst vor 50.000 Jahren nach Mitteleuropa eingewandert sein dürfte und daher den Speziesnamen "Ursus ingressus" erhielt. Gründe für den Zeitpunkt der Immigration, die zeitgleich mit der des modernen Menschen (Homo sapiens) stattgefunden haben könnte, werfen neue Fragen über Klima- und Faunen-Wandel auf. Moderne Forschungsmethoden wie Analysen der stabilen Isotope C13 , N15 und O18, sowie neue radiometrische Datierungen und genetische Untersuchungen werden auch in Zukunft die Fossilien der Drachenhöhle nicht außer Acht lassen können.
ABEL, O. & KYRLE, G. 1931. Die Drachenhöhle bei Mixnitz. – Speläol. Monogr. 7-9, Wien
EHRENBERG, K. 1929. Die Ergebnisse der Ausgrabungen in der Schreiberwandhöhle am Dachstein. – Paläont. Z. 11: 3:261-268, Berlin
HOFREITER, M., CAPELLI, C., KRINGS, M., WAITS, L., CONARD, N., MÜNZEL, S., RABEDER, G., NAGEL, D., PAUNOVIC, M., JAMBRESIC, G., MEYER, S., WEISS, G. AND PÄÄBO, S. (2002) Ancient DNA analyses reveal high mitochondrial DNA sequence diversity and parallel morphological evolution of late Pleistocene cave bears (Ursus spelaeus). Mol Biol Evol, 19(8), 1244 – 1250.
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RABEDER, G. & HOFREITER, M. 2004. Der neue Stammbaum der Höhlenbären. – Die Höhle 55, 1-4: 58-77, Wien
Text: emer. O. Prof. Dr. Gernot Rabeder, Foto: Rudolf Gold