Gewichtstabelle von Maria Lienhart (1873–1962) mit Einträgen von September 1888 bis Mai 1932
Aufgeschlagen: Einträge vom 13.05.1914 bis 23.02.1921
Papier, Tinte
Größe: 20,4 x 8,5 cm (aufgeschlagen)
Inventarnummer: SFN NL 16 II
Aus der Sammlung Frauennachlässe
Auflisten und Verrechnen ist ein Thema, das in Selbstzeugnissen häufig und dabei auf verschiedene Weisen vorkommt. Einerseits gibt es Genres wie Haushalts- oder Wirtschaftsbücher, Lese- oder Theaterverzeichnisse, die konkret zum Zweck geführt wurden, Zahlen und Daten festzuhalten. In Briefen oder Tagebüchern wird ebenso häufig gelistet. Vielfach haben Schreiberinnen und Schreiber auch eigene Formen des seriellen Belegens entwickelt. So etwa die Wienerin Maria Lienhart (1873–1962), die in einem kleinen, selbst gemachten Heftchen das jeweilige Körpergewicht ihrer Familienangehörigen festgehalten hat. Die Aufzeichnungen reichen von 1888 bis 1932, wurden also 44 Jahre lang geführt.
Dabei notierte Maria Lienhart zuerst nur die Kilos, die ihr jüngerer Bruder auf die Waage brachte. Bald darauf wurde der gesamte 6-Personen-Haushalt regelmäßig verzeichnet. Einige Male finden sich sogar Angaben zu Personen, die wohl gerade zu Besuch gekommen waren. Im Laufe der Jahrzehnte wurden auf diese Weise weit über 200 verschiedene Erhebungen notiert. Sich selbst hat Maria Lienhart dabei 58 Mal dokumentiert, wobei sie durchaus starke Gewichtsschwankungen zu verzeichnen hatte: Im November 1907 etwa trug sie für sich als Mizi 66,4 kg ein, im Oktober 1918 nur noch 47,4 kg. Damit wurde ihr Verzeichnis nicht zuletzt zu einem aussagekräftigen Zeugnis des Ersten Weltkrieges, als die Erfahrung von Tod, Krankheit und Hunger sich verallgemeinerte - in der Großstadt Wien umso mehr.
Maria Lienhart lebte in wohlhabenden Verhältnissen in der Wiener Innenstadt. Sie sprach mehrere Fremdsprachen und führte als alleine stehende Frau den Haushalt ihres verwitweten Vaters Karl Ignatz Lienhart, in dem auch ihr lediger Bruder und die ebenso unverheiratete Tante lebten. Der Vater war Verlagsbuchhändler, von ihm stammen die zweiten hier unter Karl gelisteten Gewichtsangaben. Das kleine Heftchen ist Teil eines insgesamt sehr umfangreichen Familiennachlasses, der bis in die 1840er Jahre zurückreicht und vier Generationen umfasst. Eine weitere tabellarische Aufzeichnung ist dabei z. B. die Liste aller bis zum Ersten Weltkrieg angestellten Köchinnen und Dienstmädchen.
Die Gewichtstabelle der Familie Lienhart ist auch eines der vielen Exponate der virtuellen Ausstellung Erster Weltkrieg und das Ende der Habsburgermonarchie , das aus der Sammlung Frauennachlässe kommt. Die Sammlung Frauennachlässe veröffentlicht ihrerseits seit Juni 2014 bis 2018/2019 im Blogformat Auszüge aus den Beständen zum Ersten Weltkrieg . Etwa aus Tagebüchern von Frauen und Mädchen, den Aufzeichnungen einer Mutter für ihr kurz vor Kriegsbeginn geborenes Kind, aus Feldpost oder Liebesgaben- und Kriegsgefangenen-Korrespondenzen u.v.m. Dem Verlauf des Krieges an den Heimat-/Fronten folgend, entsteht so ein Kaleidoskop unterschiedlicher Kriegserfahrungen und -deutungen. Zum konkreten Datum – jeweils 100 Jahre später – werden so Einblicke in schwankenden Patriotismus und Protest, Hoffnung und Verzweiflung, Hunger, Entbehrung, Gewalt und Trauer, in die in alle Lebensbereiche dringende Katastrophe online präsentiert.
Text: Li Gerhalter und Christa Hämmerle; Foto: Li Gerhalter, Sammlung Frauennachlässe