Blatt aus dem "Theaterarchiv Leuschke"

Blatt aus dem "Theaterarchiv Leuschke"

Blatt aus dem "Theaterarchiv Leuschke" mit aufgeklebtem Zeitungsausschnitt
"Böhm Gastdirigent im deutschen Opernhaus" Dresdner Nachrichten, Februar 1937 (Vorderseite); Veranstaltungseinladung Zentralinstitut für Theaterwissenschaft, Juni 1943 (Rückseite)
Papier (bedruckt, beklebt, beschriftet und markiert)
Maße: 21 x 14,8 cm (Blatt); 9,3 x 11,2 cm (Zeitungsausschnitt)
Signatur: S1-70
Aus dem Archiv und den Sammlungen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft


Der Zeitungsausschnitt ist Teil der theaterhistorischen Sammlung "Theaterarchiv Leuschke" im Archiv und den Sammlungen des Instituts für Theater-, Film- und Medienwissenschaft. Dieser Bestand wurde 1943 von der Stadtbibliothek Wien erworben und als Dauerleihgabe an das damals neu gegründete Zentralinstitut für Theaterwissenschaft übergeben. Über beide Vorgänge existieren keine Unterlagen. Der derzeitige Bestand beinhaltet eine Sammlung von geschätzt 200.000 theaterrelevanten Zeitungsartikeln aus dem deutschsprachigen Raum zwischen 1827 und 1948. Zu Person und Leben des Bestandsbildners Alfred Leuschke ist sehr wenig bekannt, denn Daten über ihn sind äußerst schwer aufzufinden.
Die Zuordnung des Zeitungsausschnitts zu den Dresdner Nachrichten ist an der mit Bleistift unter den Artikel geschriebenen Notiz erkennbar. Der Artikel beinhaltet einen Bericht zur Neuinszenierung der Oper „Rigoletto“ unter der musikalischen Leitung des damaligen Dresdner Generalmusikdirektors Karl Böhm (1894–1981) am Deutschen Opernhaus zu Charlottenburg im Jahr 1937. Die hoch gelobte Aufführung ist bezeichnend für Böhms Erfolg im Nationalsozialismus. Dieser Bericht ist ein Zeugnis für die Karriere des jungen Karl Böhm, der neben Wilhelm Furtwängler (1886–1954) zu den renommiertesten Dirigenten des nationalsozialistischen Kulturbetriebs zählte. 1943 wurde Böhm als Direktor an die Staatsoper Wien berufen.

Im selben Jahr gründete der prominente nationalsozialistische Literaturwissenschafter Heinz Kindermann (1894–1985) das Zentralinstitut für Theaterwissenschaft an der Universität Wien. Damit einhergehend begann er, das dazugehörige Archiv aufzubauen. Das "Theaterarchiv Leuschke" war ein Gründungsbestand. Ein Großteil der Zeitungsausschnitte wurde bereits vor Erwerb geklebt und kommentiert. In diesem speziellen Fall ist mit Sicherheit festzustellen, dass der Artikel erst im Institut geklebt wurde, weil die Rückseite eine Einladung zu einer Institutsveranstaltung vom 8. Juni 1943 abbildet. Dabei handelt es sich, anlässlich Friedrich Hölderlins 100. Todestag, um die zweite Sonderveranstaltung des Zentralinstituts. - Dem Dokument ist zu entnehmen, dass die Veranstaltung mit einem einleitenden Vortrag Kindermanns begann, worauf die Lesung einer Szene aus dem "Tod des Empedokles" von Burgschauspieler Raoul Aslan (1886–1958) folgte. Dies spricht für das große Netzwerk, das sich Kindermann aufgebaut hatte und nutzte, um seinen Führungsanspruch für das Fach im Dritten Reich zu festigen. Hölderlin (1770–1843) zählt außerdem zu den exponierten Dichtern, die im Nationalsozialismus für Umdeutungen und die Legitimierung nationalsozialistischer Ideologie herangezogen wurden. Heinz Kindermann beschäftigte sich neben Hölderlin auch mit Johann Wolfgang von Goethe (1749–1832), um seine Machtposition auszubauen, zu legitimieren und nationalsozialistische Literatur- und Theatergeschichtsschreibung zu betreiben. Diese Strategie spiegelt sich auch in der Ankündigung der dritten Sonderveranstaltung wider, die ebenfalls auf der Rückseite des Blattes vermerkt ist. Darin wird auf einen Vortrag von Heinz Hilpert (1890–1967) verwiesen, der neben Gustaf Gründgens (1899–1963) als einer der einflussreichsten Theaterleiter und Regisseure im Nationalsozialismus gilt.

Diese Archivalie beinhaltet also Informationen, die sowohl von theaterhistorischem als auch fachhistorischem Interesse sind. Auf der einen Seite findet sich der Zeitungsausschnitt, der sich auf die Inszenierung des regimetreuen Dirigenten Böhm bezieht. Die Rückseite erweitert die musiktheaterhistorische Information um ein institutsgeschichtliches Dokument. Im "Theaterarchiv Leuschke" finden sich einige Materialien, die auf mehrfacher Ebene Informationen bergen. Dies war Ausgangspunkt für die Entwicklung eines FWF-Projekts mit dem Titel "Historiography – Ideology – Collections. Research-based Digitizing of Historical Theater Material from the 'Zentralinstitut für Theaterwissenschaft' in Vienna 1943-1945".

Forschungsprojekt "Sammlungsideologie und Geschichtsschreibung. Forschungsgeleitete Digitalisierung theaterhistorischer Materialien des 'Zentralinstituts für Theaterwissenschaft' 1943–45"

Ziel des Projekts ist die Untersuchung des Sammlungsaufbaus des Archivs des ehemaligen Zentralinstituts für Theaterwissenschaft als ideologisch motivierte Wissenschaftspraxis sowie dessen wissenschaftliche Erschließung und die sammlungshistorische Auswertung der generierten Quellen. Dabei wird sowohl auf Digitalisierung als auch auf konservativer Archivarbeit aufgebaut. Die Auseinandersetzung mit dem Material ist forschungsgeleitet, um Auswahlkriterien für Digitalisierungsprozesse zu entwickeln und sinnvolle Metadatenarbeit durchzuführen.

Projektleitung: PD, Mag.a Dr.in Birgit Peter

Team: Louise Hartmann BA, Mag. Dr. Klaus Illmayer, Janina Piech BA MA, Mag.a Sara Tiefenbacher

Kooperationspartnerinnen: Mag.a Dr.in Martina Cuba, MSc (Fachbereichsbibliothek TFM), Mag.a Claudia Feigl, MAS (Sammlungsbeauftragte der Universität Wien, DLE Bibliotheks- und Archivwesen)

Laufzeit: 02.11.2017–01.11.2020

Fördergeber: FWF



Literaturauswahl:

Birgit PETER: „Wissenschaft nach der Mode“. Heinz Kindermanns Karriere 1914-1945. Positionen und Stationen, In: Birgit Peter (Hg.): "Wissenschaft nach der Mode"?: Die Gründung des Zentralinstituts für Theaterwissenschaft an der Universität Wien 1943. Wien [u.a.]: Lit-Verlag 2008 (=Austria: Universitätsgeschichte, Bd. 3), S. 15-51. Exemplare im Bestand der UB Wien und 2. Aufl.
Fritz TRÜMPI: Politisierte Orchester. Die Wiener Philharmoniker und das Berliner Philharmonische Orchester im Nationalsozialismus. Wien: Böhlau 2011. Exemplare im Bestand der UB Wien
Gerald M. BAUER: „Man muss handeln, als ob Krieg wäre.“ Arbeits- und Liebesbeziehungen am Burgtheater, dargestellt am Beispiel Raoul Aslans und Tonio Riedls während der NS-Zeit. In: Maske und Kothurn. Internationale Beiträge zur Theaterwissenschaft. Jg. 50/Heft 2/2004, S. 87-102. Zeitschrift im Bestand der UB Wien
Gerald M. BAUER und Birgit PETER (Hg.): Das Theater in der Josefstadt. Kultur, Politik, Ideologie für Eliten? Wien [u.a.]: Lit-Verlag 2010 (=Wien – Musik und Theater, Bd.3). Exemplare im Bestand der UB Wien
Martina CUBA: „Die Gründung eines theaterwissenschaftlichen Forschungsapparates im Nationalsozialismus. Zur Sammlungsgeschichte der Bestände am Zentralinstitut für Theaterwissenschaft der Universität Wien 1943-1945.“ Universität Wien: Diss. 2017.
Oliver RATHKOLB: Führertreu und gottbegnadet. Künstlereliten im Dritten Reich. Wien: Österreichischer Bundesverlag 1991. Exemplare im Bestand der UB Wien

Weiterführende Links:

Text: Louise Hartmann, Birgit Peter, Janina Piech, Sara Tiefenbacher; Foto: Claudia Feigl