Brief von Albert Einstein an Hans Thirring

Brief von Albert Einstein an Hans Thirring

Handschriftlicher Brief vom 3. 4. 1933
Albert Einstein (1879–1955) an Hans Thirring (1888–1976)
Maße: 21,2 x 27,5 cm
Signatur: B35-4771
Aus der Nachlass-Sammlung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik und Fachbereichsbibliothek Chemie


Am 30. Jänner 1933 hatte Adolf Hitler in Deutschland die Macht ergriffen, und schon am 10. März 1933 erklärte Albert Einstein (14.3.1879–18.4.1955) in Pasadena, USA, wo er gerade Vorlesungen hielt, dass er unter den herrschenden politischen Zuständen nicht an seinen Arbeitsplatz in Berlin zurückkehren werde:

"Solange mir eine Möglichkeit offensteht, werde ich mich nur in einem Land aufhalten, in dem politische Freiheit, Toleranz und Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz herrschen."

Den hier gezeigten Brief an Hans Thirring  schrieb Albert Einstein  am 3. April 1933 aus Le-Coq-sur-Mer, seiner ersten Station nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland. Einstein hatte in dem kleinen belgischen Badeort Le Coq (flämisch: De Haan) vorläufige Zuflucht gefunden. Der Brief, dessen Inhalt nach wie vor höchst aktuell ist, ist einer von 13 Briefen Einsteins an Thirring, die sich alle im Hans Thirring-Nachlass  an der Zentralbibliothek für Physik befinden. Der erste datiert vom 2. August 1917, der letzte vom 24. Februar 1955, also zwei Monate vor Einsteins Tod. Hans Thirring (23.3.1888–22.3.1976) war Professor für Theoretische Physik an der Universität Wien. Er beschäftigte sich eingehend mit Einsteins Relativitätstheorie, was auch den Briefkontakt mit Albert Einstein  erklärt. Thirring wurde 1918 mit der Arbeit über den sogenannten "Lense-Thirring-Effekt"  bekannt, einem Effekt, der die Veränderung der Einstein'schen Raumzeit in der Nähe von großen rotierenden Massen beschreibt, und dessen endgültige experimentelle Bestätigung erst 2012 gelang. Von den Nationalsozialisten wurde Hans Thirring aus politischen Gründen verfolgt  und im Dezember 1938 seines Amtes enthoben, von der Universität Wien vertrieben und "zwangspensioniert". 1945 durfte er wieder an die Universität Wien zurück.

Thirring war nicht nur Wissenschafter , sondern entwickelte sich im Laufe seines Lebens immer mehr zum Friedenspolitiker und Volksbildner. Als Bundesrat für die SPÖ  und als Vizepräsident der Österreichischen UNESCO-Kommission setzte er sich unermüdlich für die Verbesserung von zwischenmenschlichen Beziehungen, für mehr und bessere Bildung und für demokratische Erziehung ein. Legendär war Thirrings Engagement für Frieden und Abrüstung. Es brachte ihm Nominierungen für den Friedensnobelpreis ein. - Im österreichischen Parlament trat er für eine einseitige Abrüstung Österreichs, eine unbewaffnete Neutralität, ein. Dieser "Thirring-Plan" löste 1963 Tumulte im Parlament aus. 1957 war Hans Thirring gemeinsam mit Bertrand Russell, Joseph Rotblat und vielen anderen Wissenschaftern Mitbegründer der PUGWASH-Bewegung . 1958 brachte er die 3. PUGWASH-Konferenz nach Österreich und positionierte Österreich erstmals nach dem Staatsvertrag im damals bestehenden Kalten Krieg als Mittler zwischen Ost und West.

Die Österreichische Zentralbibliothek für Physik besitzt den kompletten schriftlichen Nachlass dieses Physikers, Friedensaktivisten und Politikers. Es befinden sich nicht nur die Manuskripte seiner wissenschaftlichen Arbeiten sowie Korrespondenzen mit herausragenden Wissenschaftern wie Albert Einstein, Max Planck, Werner Heisenberg oder Lise Meitner, sowie mit Friedensaktivisten wie Bertrand Russell, Joseph Rotblat, Linus Pauling oder Albert Schweitzer darin, sondern auch unzählige Zeugnisse über Thirrings sozialpolitisches Engagement und seine Friedensaktivitäten, insbesondere Dokumente zur PUGWASH-Bewegung. Zusätzlich spiegeln tausende private Dokumente, darunter viele Fotografien, Thirrings langes und engagiertes Leben eindrucksvoll wider und gewähren guten Einblick in das Geistesleben in Österreich und Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Albert Einsteins Geburtstag jährt sich heuer, am 14. März 2019, zum 140. Mal, und 2016 wurde der Nachlass von Hans Thirring in das Österreichische Nationale Memory of the World Register der UNESCO  aufgenommen.

Abschrift:

Le Coq, 3.4.1933
Lieber Herr Thirring!
Es gehört heute viel Mut dazu, das Selbstverständliche zu sagen und zu thun, und es sind wahrhaft wenige, die diesen Mut aufbringen. Sie gehören zu diesen wenigen und ich drücke Ihnen die Hand als einem, der mir in der ganzen Sinnesart nahesteht. Unseresgleichen gehört die Zukunft oder die Völkerwanderung von unten wird alles Geistige zerstören.
Es handelt sich nämlich hier um viel mehr als um die Juden. Diese zahlen nur als exponierte Position des Geistigen, des Individuellen. Unsere Vertreter der Wissenschaft versagen in ihrer Pflicht, für das Geistige einzustehen, weil ihnen die leidenschaftliche Liebe für geistige Werte völlig abhanden gekommen ist, die Mentalität Giordano Bruno’s. Deshalb nur können minderwertige und gemeine Naturen zur Herrschaft gelangen und ihren niedrigen Sinn dem Volke aufprägen.
Noch ist es nicht überall so. Aber wir sehen mit erschreckender Deutlichkeit, dass wir kämpfen müssen, und dass wir die aufrecht Gebliebenen davon zu überzeugen haben, dass auch sie nicht abseits stehen dürfen.
Herzlich grüßt Sie Ihr
A. Einstein

Literatur:

ZIMMEL, Brigitte, KERBER Gabriele (Hrsg.), Hans Thirring: Ein Leben für Physik und Frieden. Wien [u. a.], Böhlau, 1992, 219 S., Ill., ISBN: 9783205054955; ISBN: 3205054954, Enthalten: Bibliogr. und Literaturverz. S. 143 - 214. Exemplare im Bestand der UB Wien.

BRODA, Engelbert, Einstein und Österreich. Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte der Mathematik, Naturwissenschaften und Medizin, Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Heft 33 (1980), 29 S. Exemplar im Bestand der UB Wien (auch als vervielfältigtes Manuskript 1979). [Elektronischer Text ].

Brief von Albert Einstein an Hans Thirring

Text: DI Peter Graf, Foto unten: Fotograf unbekannt