Barockes Dispensatorium - Arzneimittelquelle für Familie Mozart

Barockes Dispensatorium - Arzneimittelquelle für Familie Mozart

Dispensatorium Pharmaceuticum Austriaco-Viennense, Wien 1751

Dispensatorium Pharmaceuticum Austriaco-Viennense in quo hodierna die usualiora medicamenta secundum artis regulas componenda visuntur. Cum Sacrae Caesareae Regiaeque Catholicae Majestatis privilegio. Sumptibus collegii pharmaceutici viennensis.
Viennae Austriae
Anno incarnationis dominicae MDCCXXIX (1729)
Reimpressum apud Gregorium Kurtzböck, Universitatis Typographum MDCCLI (1751)

pp 272 + pp 20 Index
Maße: 21,5 x 30 cm
Inventar-Nr.: 901
Aus der Fachbereichsbibliothek Pharmazie und Ernährungswissenschaften der Universität Wien


Das "Dispensatorium Pharmaceuticum Austriaco-Viennense" von 1751 - Quelle für die Haus- und Reiseapotheke der Familie Mozart

In den Beständen der Fachbereichsbibliothek Pharmazie und Ernährungswissenschaften der Universität Wien finden sich einige bibliophile Kostbarkeiten, darunter in der Arzneibuch-Abteilung auch eine Sammlung barocker Dispensatorien bzw. Pharmakopoen. Es handelt sich hierbei um Vorschriften-Bücher für arzneiliche Grundstoffe (Simplicia) und Präparate (Composita), die Richtlinien für die Zubereitung, Beschaffenheit, Prüfung und Aufbewahrung von Arzneimitteln geben und somit der Qualitätssicherung dienen. Pharmakopoen stellen daher die Apothekerbücher schlechthin dar. Für die Pharmaziegeschichte und speziell die Geschichte des Arzneischatzes sind sie eine wichtige Quelle, weil sie als Spiegel ihrer Zeit einen faszinierenden Einblick in den jeweiligen Arzneischatz geben (zit. nach 1).
Dies gilt ganz besonders für das hier vorgestellte Exemplar des "Dispensatorium Pharmaceuticum Austriaco-Viennense"; es erschien als erstes österreichisches, "bodenständiges" Wiener Arzneibuch zwischen 1729 und 1770 in mehreren fast identen Ausgaben bzw. Nachdrucken und verweist schon mit seinem imposanten Frontispiz auf die barocke Prachtentfaltung des Wiener Hofes unter Kaiser Karl VI. Auch der Inhalt spiegelt mit seiner Fülle die ganze Polypragmasie der damaligen Zeit: mehr als 1.500 Präparate in 19 unterschiedlichen Klassen, darunter oft sehr komplex zusammengesetzte Composita von Aceta (Essige) und Aquae (Wässer) über Emplastra (Pflaster) und Olea (Öle) bis zu Pulveres (Pulver) und Unguenta (Salben).

Zunächst galt das Dispensatorium zwar nur in Wien, der Haupt- und Residenzstadt des Kaiserreiches, doch schon die zweite Ausgabe war ab 1737 für alle österreichischen Erblande verbindlich. Zusätzlich hatte die lokal zuständige Behörde diese Pharmakopoe auch im damaligen autonomen Fürsterzbistum Salzburg für gültig erklärt, und daher diente sie als Quelle für all jene Arzneimittel, die Vater Leopold Mozart für seine Familie in Salzburger Apotheken anfertigen ließ bzw. bezog (2, 3).
Zu den meist verwendeten und als vielseitig verwendbare Hausmittel höchst geschätzten "Standardmedikamenten" der mozartischen Haus- und Reiseapotheke gehörte das sogenannte "Markgrafenpulver" (Pulvis Epilepticus Marchionis), das deshalb etwas näher betrachtet werden soll. Von den Ärzten wurde es nicht nur bei der namensgebenden Epilepsie, sondern entsprechend der damaligen "Säftelehre" auch gegen Katarrh und Entzündungen oft verschrieben und entsprechend viel gebraucht, wie schon die ungewöhnlich große verordnete Herstellungsmenge von über 1.600g zeigt.

Seine typisch barock-polypharmazeutische Zusammensetzung aus pflanzlichen und tierischen Stoffen mutet uns heute eher obskur an:

"Pfingstrosenwurzeln, die bei abnehmendem Mond ausgegraben wurden, zwei Librum (= ca. 840g)
Eichenmistel
geschabtes Elfenbein
Elen(= Elch)klaue
gebranntes Elfenbein
Hirschhornspitzen
Pulver aus Flussmuscheln je 1/2 Librum (= je 210g)
weiße Korallen ein Librum (= 420g)
pulverisieren, mischen, dann dazu geben Goldblättchen 200." (4)

Auffällig erscheint die vorgeschriebene Darreichungsform: jede Einzelportion wurde auf ein Goldblättchen gegeben, dieses gefaltet und dann wie eine vergoldete Pille geschluckt – die Wirkung der Bestandteile sollte dadurch deutlich verstärkt sein. In heutigen Apotheken werden magistral gemischte Pulver hingegen in zwar weniger attraktiven, aber dafür präziser dosierten Hartgelatine-Kapseln gefüllt abgegeben. Gemäß der "Neuen Apotheker Taxordnung" von 1744 kostete die oben beschriebene Rezeptur 12 Kreuzer (Anm.: dies entsprach bei aller Unsicherheit von Kaufkraft-Vergleichen etwa einer Diener-Mahlzeit mit Bier).

Aus heutiger Sicht war von keinem der vielen tierischen Bestandteile (die aber voll dem Therapieverständnis des 18. Jahrhunderts entsprachen!) eine pharmakodynamische Wirkung zu erwarten; als wirksame Haupt-Komponente kann Pfingstrosenwurzel (Radix Paeoniae) angesehen werden, der laxierende, emetische, antikonvulsive und expektorierende Wirkungen zugeschrieben wurden – allerdings immer verbunden mit der Gefahr von Nebenwirkungen bei Dauergebrauch oder Überdosierung speziell dieser Laxantien!
Zusätzlich war durch den Einsatz des wertvollen und optisch attraktiven Blattgoldes auch mit einem starken Placebo-Effekt zu rechnen.

Als Wolfgang Amadé Mozart im Jahre 1781 seinen Wohnsitz auf Dauer von Salzburg nach Wien verlegte, galt dort bereits seit 1774 ein neues Arzneibuch: die erste gesamt-österreichische "Pharmacopoeia Austriaco-Provincialis". Inhalt und Format hatten sich markant geändert, und speziell die ehemalige barocke Überfülle an Rezepturen war drastisch geschrumpft. Das "Markgrafenpulver" war zwar noch enthalten, aber die Anzahl der Komponenten bereits reduziert, und auf das Blattgold wurde völlig verzichtet. Der Übergang vom prunkliebenden Barock-Kaiser Karl VI. zum nüchternen Josephinismus von Kaiser Joseph II. war also auch in der Pharmazie angekommen.

Literatur

1) WULLE, Stefan: Bilsenkraut und Bibergeil : 50 Jahre DFG-Sondersammelgebiet Pharmazie ; zur Entwicklung des Arzneischatzes ; Begleitheft und Auswahlbibliographie zur Ausstellung vom 30.4. bis 19.6.1999 Braunschweig: Univ.-Bibliothek ; 1999 (Veröffentlichungen der Universitätsbibliothek Braunschweig – 13). DOI:10.24355/dbbs.084-200511080100-227, als Digitalisat  verfügbar.
2) NOWOTNY, Otto: Die medikamentöse Versorgung der Familie Mozart; Österreichische Apotheker-Zeitung Bd. 60 (2006), S. 132-135. Zeitschrift im Bestand der UB Wien, dieser Artikel online  verfügbar.
3) KLETTER, Christa (ed.): The Civil Pharmacopoeias of Austria. Working Group "History of Pharmacopoeias" of the International Society for the History of Pharmacy - ISHP. PDF
4) LUDEWIG, Reinhard: Die Haus- und Reiseapotheke der Familie Mozart; Zeitschrift für Phytotherapie Bd. 12 (1991), S. 183-191. Zeitschrift im Bestand der UB Wien

Barockes Dispensatorium - Arzneimittelquelle für Familie Mozart

Text und Fotos: Mag. pharm. Dr. Kurt Schneider