Glasplattendia mit Reproduktion eines elektrophysiologischen Experiments

Glasplattendia mit Reproduktion eines elektrophysiologischen Experiments

Guillaume-Benjamin Duchenne bei einem Elektrophysiologie-Experiment (zwischen 1852-1856)
Vorlage: Frontispiz aus "Mécanisme de la physionomie humaine" von Guillaume-Benjamin Duchenne
Diapositiv monochrom auf Glasplatte mit Deckglas (Rückseite), um 1940
Maße: 10 x 8,5 cm
Inventarnummer: GPD-069
Aus der Historischen Sammlung des ehemaligen Instituts für Psychologie


Fotografien waren ein wichtiges Werkzeug jener ersten Neurologen in Paris, die Mitte des 19. Jahrhunderts damit begannen, die Geheimnisse des menschlichen Nervensystems wissenschaftlich zu erforschen. Die als Glasplattendia reproduzierte fotografische Aufnahme zeigt den französischen Physiologen und Begründer der Neurologie, Guillaume-Benjamin Duchenne de Boulogne  (1806–1875), wie er bei einem Probanden durch das gezielte Ansetzen von Elektroden den Ausdruck des Lachens hervorruft. Ziel dieser Experimente war es, herauszufinden, welche Muskeln an bestimmten Gesichtsausdrücken beteiligt sind. Die Fotografie diente dazu, die flüchtigen Gesichtsausdrücke festzuhalten.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts noch relativ neue Technik der Fotografie konnte im akademischen Umfeld bald auch noch in anderer Hinsicht nutzbar gemacht werden: Ab den 1880er Jahren wurde sie in Form von zum Teil massenhaft produzierten Glasdias als Anschauungsmaterial für den Unterricht an Universitäten eingesetzt. Diese Diapositive sind um einiges größer als jene - meist farbigen - Kleinbilddias, die ab der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Gebrauch kamen. Das Prinzip ist jedoch dasselbe: Man konnte die auf einem transparenten Träger befindliche Fotografie mit Hilfe einer starken Lichtquelle und durch Linsen vergrößert auf eine helle Fläche projizieren und damit einer größeren Anzahl von Personen in guter Qualität vorführen. Für die Inhalte solcher Lehrmitteldias zog man oft Bilder aus Fachbüchern heran – im vorliegenden Fall aus Duchennes 1862 erstmals veröffentlichtem Werk über menschliche Gesichtsausdrücke und die elektrische Muskelstimulation Mécanisme de la physionomie humaine, ou Analyse électro-physiologique de l'expression des passions applicable à la pratique des arts plastiques (deutsch: Mechanismus der Menschlichen Physiognomie).

Das oben abgebildete Dia stammt aus einer Sammlung von mehreren hundert Dias, die vor einigen Jahren an der Fakultät für Psychologie in einem Heizungskeller gefunden wurden. Inventarbücher oder andere Quellen zur Entstehung der Diasammlung blieben bislang leider unauffindbar. Die überwiegend in gutem Zustand erhaltenen Dias wurden in diesem Frühjahr professionell digitalisiert und sind aktuell Gegenstand eines Abschlußprojekts im Rahmen des Grundlehrganges "Library and Information Studies". Die analogen Glasplattendias wurden bereits sortiert und in säurefreie Umschläge und Archivboxen umgelagert. Das Team von vier Projektteilnehmerinnen hat die Dias außerdem digital erschlossen; die Digitalisate werden zusammen mit den ermittelten Kontextinformationen in das Repositorium PHAIDRA eingespielt, wo sie in Kürze online abrufbar sein werden. Zur analogen Fotografie der Fotografie tritt damit die mit Metdadaten angereicherte digitale Reproduktion.

Die Dias sind als Dokumente der Geschichte des Instituts für Psychologie in Wien zu verstehen: Dieses wurde 1922 gegründet, als man den renommierten deutschen Denk- und Sprachpsychologen Karl Bühler  (1879–1963) als Professor für Psychologie nach Wien berief und zum Leiter des neu gegründeten Instituts für Psychologie ernannte. Didaktische Hilfsmittel wie die Glasplattendias, lassen – neben Vorlesungsverzeichnissen und vereinzelt erhaltenen Mitschriften und Vorlesungsmanuskripten – wichtige Rückschlüsse auf die historischen Lehrinhalte zu. Allerdings lassen sich die Dias selten einer konkreten Lehrveranstaltung zuordnen. Das obige Dia bildet hier eine interessante Ausnahme: In einem auf das Jahr 1944 datierten Vorlesungstyposkript des damaligen Oberassistenten Norbert Thumb (1903–1993) findet sich ein Abschnitt, der sich mit Duchennes Arbeit beschäftigt. Dass die handschriftliche Ergänzung „A 45“ im Typoskript mit der Beschriftung auf der Rückseite des abgebildeten Dias übereinstimmt, ist also bestimmt kein Zufall und erlaubt es, das Dia dieser Lehrveranstaltung zuzuordnen.

Thumb war damals einer der letzten verbliebenen Lehrenden am Institut. Er hatte sich mit den Nationalsozialisten arrangiert und 1938 einen Antrag auf Mitgliedschaft bei der NSDAP gestellt. Karl Bühler, bei dem Thumb dissertiert und als Hilfswissenschaftler seine Karriere am Institut begonnen hatte, war hingegen gezwungen, Wien zu verlassen und ins Exil nach Amerika zu flüchten. Thumb kam ursprünglich aus der sogenannten "Psychotechnik", die Methoden der Psychologie im betrieblichen Umfeld nutzbar machte, v.a. für Eignungs- und Einstellungstests. Im Nationalsozialismus stand die Psychotechnik allerdings in der Kritik, die 'ganzheitliche Persönlichkeit' mechanisch in isolierte Einzelkomponenten zu zergliedern. Daher sollte sie durch Methoden der "Charakterologie" und "Ausdruckskunde" ergänzt werden. Eben diese Gebiete sind Gegenstand der Vorlesung Norbert Thumbs aus dem Jahr 1944, in der tatsächlich im weiteren Verlauf auch die Bedeutung des „ganzheitlichen, intuitiven Eindruck[s]“ in der Anwendung der ausdruckspsychologischen Methoden betont wird.

Obwohl das gezeigte Dia auf den ersten Blick nichts weiter als die Beschriftung “A 45” trägt, konnten dennoch durch akribische Recherchen Teile des historischen Lehrprogramms sowie Details aus der Geschichte des Instituts für Psychologie der Universität Wien nachgezeichnet werden. Die Glasplattendias der Historischen Sammlung Psychologie bilden somit eine wichtige Quelle für die Wissenschaftsgeschichte und verdienen daher auch heute noch eine nähere Betrachtung.

Literatur:

DUCHENNE (de Boulogne), Guillaume-Benjamin: Mécanisme de la physionomie humaine ou analyse électro-physiologique de l'expression des passions. Deuxième Édition, Paris 1876.

PICHEL, Beatriz: From facial expressions to bodily gestures. Passions, photography and movement in French 19th-century sciences. History of the Human Sciences (2016), Jg. 29(1), S. 27–48. (Digital verfügbar) 

THUMB, Norbert: Moderne deutsche Psychologie. Ausdruckspsychologie (unveröffentlichtes Vorlesungstyposkript) 14. 02. 1944 in APIW (Archiv des Psychologischen Instituts der Universität Wien: Korrespondenzen und Manuskripte).

WIESER, Martin: Norbert Thumb und der Aufstieg der angewandten Psychologie in der "Ostmark". Psychologie in Österreich 1 & 2 (2019), S. 106–115.

Text: Dr.in Katharina Krčal, Sonja Metz, Mag.a Anne-Sophie Meusburger & Mag.a Julia Steiner; Projektbetreuung: Mag.a Claudia Feigl & Veronika Weisswasser; Digitalisierung: Fotostudio Leutner