Vorlesungsmitschrift von Rudolf Ekstein

Vorlesungsmitschrift von Rudolf Ekstein

Vorlesungsmitschrift von Rudolf Ekstein (1912–2005)
Erste Seite der Mitschrift zur Vorlesung „Die Probleme der Philosophie in ihrem Zusammenhang.“ von Moritz Schlick
Wintersemester 1933/34
Typoskript
Aus der Rudolf Ekstein-Sammlung


Ende Juli, Anfang August 1938: Rudolf Ekstein packt in Wien seine Koffer, um mit diesen Habseligkeiten über London in die USA zu migrieren. Zu den wenigen Gegenständen, die er mitnimmt, ja, mitnehmen kann, gehören auch einige Mitschriften, die er während seines Studiums an der Universität Wien seit 1930 angefertigt hatte – darunter auch eine 273 Seiten umfassende Mitschrift der Vorlesungen von Moritz Schlick (1882–1936), die dieser im Studienjahr 1933/34 an der Universität Wien gehalten hatte.

Dieses Dokument ist in mehrfacher Hinsicht bewegend: Moritz Schlick hatte seit 1922 den Lehrstuhl für Naturphilosophie an der Universität Wien inne, wo er 1924 einen Diskussionszirkel begründete, der als Wiener Kreis in die Philosophiegeschichte eingegangen ist. 1936 wurde Schlick von einem seiner ehemaligen Studenten auf der sog. Philosophenstiege der Universität Wien erschossen. Heute erinnert eine im Treppenboden eingesenkte Plakette an diesen Mord. Bei diesem Moritz Schlick hatte auch der noch junge Rudolf Ekstein studiert und mehrere seiner Veranstaltungen besucht. Bis ins hohe Alter verehrte Ekstein diesen seinen Lehrer.

Ekstein selbst war – als Jude, als Sozialist und als angehender Psychoanalytiker – nach dem sog. "Anschluss" Österreichs an das Deutsche Reich im Jahre 1938 in mehrfacher Weise gefährdet. Noch hatte er im Jahre 1937 sein Psychologiestudium bei Karl Bühler (1879–1963) abschließen können, doch nun sah er keine Zukunft mehr für sich in dieser nunmehrigen "Ostmark". So wie kurz zuvor Sigmund Freud (1856–1939) gelang ihm durch die finanzielle und organisatorische Unterstützung durch PsychoanalytikerInnen von außerhalb des Deutschen Reiches schließlich die Flucht über London in die USA. Zu seinem Fluchtgepäck gehören auch einige Mitschriften, wie das im Foto gezeigte, die für Ekstein derart kostbar waren, dass er sie in sein Exil mitnehmen wollte.

In den USA schloss Ekstein seine psychoanalytische Ausbildung ab, wurde von Karl Menninger (1893–1990) eingeladen, an der renommierten Menninger Foundation in Topeka, Kansas, als Psychoanalytiker zu arbeiten, bevor er schließlich 1957 die Einladung zur Fortsetzung seiner Forschungsarbeit am Reiss-Davis Center in Los Angeles annahm und dort sich schwerpunktmäßig zu sog. "Grenzfallkindern" forschte, also Kindern und Jugendlichen mit Psychosen, Autismus und Borderline-Erkrankungen.

Im Laufe der 1960er-Jahre begann er – trotz der schlimmen Erfahrungen, die er in Österreich gemacht hatte – in seinen Urlaubszeiten nach Wien und Österreich zu kommen. Bis zu den 1970er-Jahren hatte er wieder mehrere Kontakte geknüpft, so dass er nun jeweils einige Monate pro Jahr in Wien verbrachte, um hier im Rahmen von Aus- und Fortbildungen im psychosozialen Feld junge Menschen mit den Errungenschaften der Psychoanalyse bzw. den Entwicklungen der Psychoanalyse in den USA bekannt zu machen.

1995 erhielt er den Ehrendoktortitel der Universität Wien, 1999 wurde ihm der Goldene Rathausmann der Stadt Wien überreicht, 2005 verstarb Rudolf Ekstein in Los Angeles. Seine beiden Kinder, Jean Ekstein-Tiano und Rudolph Ekstein jr. übergaben 2006 den Nachlass von Rudolf Ekstein an die Universität Wien, wo er zur Zeit im Rahmen eines Forschungsprojekts unter der Leitung des Autors dieses Textes geordnet, katalogisiert und digitalisiert wird, um ihn dann der forschungsinteressierten Öffentlichkeit zur Verfügung zu stellen.

Text: Ass.-Prof. Mag. Dr. Johannes Gstach, Privatdoz.