Fotografie des Soli

Fotografie des Soli

Fotografie von Emma (1864–1941) und Felix von Luschan (1854–1924)
»Soli«, Berlin 1893
Albumin auf Karton
Maße: 11,9 x 19,2 cm
Aus der Sammlung des Departments für Evolutionäre Anthropologie


Der österreichische Anthropologe Felix von Luschan, eine Gründungsfigur seines Fachs, präsentierte im Mai 1893 vor der monatlichen Versammlung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte Fotografien eines Knaben. Diese Möglichkeit, so von Luschan, verdanke er der besonderen Güte des Regierungsrats Fritz Rose (1855–1922) vom Auswärtigen Amt, da dieser den etwa neunjährigen Jabêm-Jungen namens Soli kürzlich zur Erziehung nach Deutschland gebracht habe (Luschan 1893, S. 273). Den jungen Soli stellte er dabei als »ersten Vertreter seiner Rasse« vor, der überhaupt aus dem damals noch jungen deutschen »Schutzgebiet« auf der Insel Neuguinea nach Europa gekommen sei (Finsch 2011, S. 46). Von Luschans spannungsreiche Inszenierung eines fotografischen Erstkontakts zwischen kolonialem Mutterland und kindlichem Kolonisierten fand dabei vor der wichtigsten anthropologischen Vereinigung des Landes statt. Die Berliner Anthropologische Gesellschaft konzentrierte sich auf das Studium außereuropäischer Regionen, was die noch jungen und aufstrebenden Wissenschaften vom Menschen nicht nur in Kontakt mit dem internationalen anthropologischen Diskurs, sondern auch mit dem globalen Kontext des Kolonialismus setzte (Zimmermann 2010, S. 4f.). Vor ihr stellte von Luschan auch Solis persönliche Vorführung in Aussicht, da dieser voraussichtlich mehrere Jahre in Berlin verweilen würde und so auch in seinem Wachstum verfolgt werden könne (Luschan 1893, S. 273).

Im Zuge der vom Photoinstitut Bonartes ab 2017 unternommenen Aufarbeitung der fotografischen Sammlung Emma und Felix von Luschan konnte jedoch der weitere Lebensweg des in Berlin geschulten Soli nachgezeichnet werden. Es lag nahe, die Suche im Umfeld der deutschen Lutherischen Mission zu beginnen, die sich damals in Solis engerer Heimat vor allem dem Schulunterricht von einheimischen Knaben widmete (Deinzer 1895–1896, S. 46). Tatsächlich fanden sich in deren Archiv in Nürnberg Kopien von zwei handschriftlichen Briefen, die Soli im Jahr 1884 von seiner Rückreise nach Neuguinea beziehungsweise nach seiner Ankunft an Fritz Rose gerichtet hatte (Mäppchen »Soli«). Zu dieser Schenkung aus der Familie Rose ist vermerkt, dass Soli 1882 nach Berlin gekommen und bei »Onkel Fritz« getauft worden sei, der zusammen mit dem deutschen Kaiser die Patenschaft übernommen hätte. Der nunmehrige »Fritz Wilhelm Soli«, der vom Kaiser selbst eine goldene Uhr als Patengeschenk bekommen hatte, musste nach knapp zwei Jahren wegen »Gefährdung seiner Lunge durch das ungewohnte Klima« wieder nach Neuguinea zurück, wo er die Missionsschule besuchen sollte (Mäppchen »Soli«).

Die Rückreise trat Soli mit einem jungen Missionar aus Neuendettelsau an, der als Verstärkung für die noch in ihren Pioniertagen befindliche Lutherische Mission in Kaiser-Wilhelms-Land ausersehen war (Froehlich 2015, S. 76). »Ich möchte nochmal Adieu sagen«, beginnt Soli seinen kurzen Brief aus Aden im Mai 1894, den er in klarer Kurrentschrift an den »Abuntan« oder »Master« Rose richtet, er sei so sehr traurig, von Berlin weggegangen zu sein. Viel von Deutschland möchte er seinen Jabêm-Leuten in der Heimat erzählen, auch ein ihm mitgegebenes Bild des Kaisers dort zeigen, und zeichnet mit »dein treuer Fritz Soli« (Mäppchen »Soli«). Unmittelbar nach ihrer Ankunft auf der deutschen Missionsstation im Juni 1895 verstarb jedoch sein junger Begleiter an Typhus, worauf Soli seine Heimat gleich wieder verlassen musste und Georg Bamler (1868–1928), ebenfalls aus dem Neuendettelsauer Seminar, auf die abgelegenen Tami-Inseln begleitete. Von den »paar hundert freundlichen Einwohnern dieser lieblichen Inseln«, die als Phönizier dieser Küste aufzufassen und auf den Handel angewiesen seien, versprach sich die Mission, dass sie »einmal fürs Evangelium gewonnen, die frohe Botschaft« leicht mit ihren großen Kanus verbreiten könnten (Froehlich 2015, S. 76, 32). Von dort schickte Soli im Dezember 1894 seinen zweiten erhalten gebliebenen Brief nach Deutschland. Über die Tami-Inseln schreibt ein »dankbarer Soli« aus betont missionierter Perspektive, so würde er hier noch mehr lernen wollen, früh schriftliche Aufgaben machen und mittags Unterricht in Katechismus und biblischer Geschichte bekommen. In seiner Freizeit, so Soli weiter, ginge er ins Dorf und spiele meistens Speerwerfen, habe aber »den Kindern auch das Blindekuhspiel gezeigt und es hat ihnen viel Spaß gemacht« (Mäppchen »Soli«).

Soli war zwar frühzeitig, aber wohl durchaus geplant in seine ozeanische Heimat zurückgekehrt. Dass sein »Gönner«, der Kolonialbeamte Fritz Rose, ihn in Berlin sowohl die Volksschule als auch den Taufunterricht besuchen ließ, mag durchaus philanthropisch motiviert gewesen sein. Im Kontext von Solis weiterem Lebensweg kristallisiert sich hier jedoch geradezu ein Fallbeispiel kolonialer »Zivilisierungsmission« heraus. Christliche Missionsgesellschaften verstanden sich als Agenten dieses Projekts, in welchem eine »Erziehung zur Arbeit« als grundlegend für die Persönlichkeitsbildung galt. Darin überschnitten sich die Ziele von Kolonialregierung, Unternehmen und Missionen, wobei häufig Formen der Ausbeutung gleichsam legalisiert wurden (Conrad 2016, S. 58, 70f.). So wurde in fast allen Missionsschulen der deutschen Südsee besonderer Wert auf die praktische Ausbildung gelegt und darin von der Kolonialverwaltung nachdrücklich unterstützt (Hiery 2002, S. 209). Auch die Neuendettelsauer Missionare hatten in ihrem Einflussgebiet Kaiser-Wilhelms-Land den Bedarf zur Weiterbildung »geeigneter Schulabsolventen und anderer Begabter« erkannt und sich für eine »Industrieschule« in Form einer Druckerei in Logaweng entschieden, die 1907 ihren Betrieb aufnahm und anfangs von Georg Bamler auch als Ausbildungsbetrieb geleitet wurde (Farnbacher 1999, S. 277). Es verwundert nicht, dass ihm Soli nach der gemeinsamen Zeit auf den Tami-Inseln als »sehr geschickter Vorarbeiter« der Missionsdruckerei zu Hilfe kam (Froehlich 2015, S. 256).

Als mittlerweile »intelligenter junger Mann«, so die Lebenserinnerungen des dortigen Pioniermissionars Johann Flierl (1858–1947), würde er neben einem ziemlich guten Deutsch auch das Jabêm und das Kâte perfekt beherrschen, die beide als erste indigene Sprachen von der Mission erarbeitet und damals jeweils als Lingua franca des Missionsgebiets dienten (Farnbacher 1999, S. 85). Neben Schul- und Kirchenbüchern wurden kleine Monatsblätter, Fibeln und christliche Jahreskalender in diesen drei Sprachen im missionseigenen Betrieb gedruckt und gebunden (Pilhofer 1961, S. 90). Als »Missionsgehilfen einer besonderen Kategorie« bestellten die Druckereiarbeiter zu ihrer Subsistenz auch eigene Felder und Gärten, was ihrer Gesundheit laut Flierl zuträglicher gewesen sei, als wenn sie nur mit Papier hätten hantieren dürfen (Froehlich 2015, S. 256). Über Soli erfährt man weiter, dass er verheiratet war und einen Sohn namens Elieser hatte, »der seinem Bilde ähnlich« gewesen sei. Im missionseigenen Sägewerk bei Finschhafen zum Zimmermann und Schreiner ausgebildet, hätte Elieser gut »nach Zollstab und Winkeleisen« gearbeitet und sei an verschiedenen Bauprojekten der Neuendettelsauer Mission, etwa an einem Krankenhaus für die einheimische Bevölkerung im Jahr 1928, beteiligt gewesen. Damit lässt sich nicht nur von Soli, dessen Ausbildung zum mehrsprachigen Gehilfen von christlich-kolonialen Zivilisierungsbestrebungen einst in Berlin begonnen hatte, sondern auch von seinen Sohn Elieser annehmen, dass er den Missionaren »die meiste Zeit seines Lebens ein bewährter Helfer« gewesen war (Pillhofer 1961, S. 32). Davon zeugen auch zwei Fotografien aus dem Missionsarchiv, die einmal den erwachsenen Soli in der Missionsdruckerei mit seiner Arbeitskollegen und einmal seinen Sohn Elieser inmitten »seiner fertigen Möbel« zeigen.

1911 sollte Soli nochmals auf einen Anthropologen treffen, diesmal in seinem Heimatort Bonga, dem nördlichsten Jabêm-Dorf an der Astrolabe Bay. Dort zeichnete der Berliner Arzt und Anthropologe Richard Neuhauss (1855–1915), ein Kollege von Felix von Luschan, während seiner Neuguinea-Expedition ein Fischerlied der männlichen Dorfbewohner auf. Ohne ihn namentlich zu nennen, berichtet Neuhauss von der kurzen Zeit, in welcher der »Papuaknabe« in Berlin Deutsch gelernt hätte und diese Sprache auch heute noch sprechen würde, obwohl er seit anderthalb Jahrzenten wieder als »Wilder« in seiner Heimat leben würde (Neuhauss 1911, S112). Ähnlich hebt ein Missionspädagoge vor Ort hervor, dass Soli sich äußerlich »in nichts von seinen Genossen« unterscheiden und nicht einmal ein Lendentuch besitzen würde. Besonders groß dürfte die Irritation von Seiten der Neuendettelsauer Mission aber gewesen sein, als er sich an »einem Rachezug seiner Dorfgenossen mit beteiligte und den ersten Speer auf das ausersehene Opfer warf.« (Pilhofer 1961, S. 121). An diesen Charakterisierungen von Soli als »Wildem« wird auch ein grundsätzlicher Widerspruch des kolonialen Projekts deutlich: dessen Ideologie einer kulturellen »Hebung« der indigenen Bevölkerung stand in einer deutlichen Spannung zu jener Politik der Differenz, auf welche sich die koloniale Herrschaft letztlich abstützte. Die vorausgesetzte Vorstellung einer klaren wie unüberbrückbaren anthropologischen Hierarchie wurde dabei von evolutionistischen Theorien wissenschaftlich abgesichert (Conrad 2016, S. 65, 70).

An der hier umrissenen Biografie zeigt sich jedoch, dass es keinesfalls nur Missionare und Forschungsreisende waren, die unmittelbar an der kulturellen Grenze zwischen westlicher und nichtwestlicher Welt tätig waren. Die Figur von Soli tritt uns heute, über alle anthropologischen Aufzeichnungsformen und Differenzbildungen hinweg, als ein früher Grenzgänger in einer sich bis heute immer weiter globalisierenden Welt entgegen. Wenn im Rahmen der vorliegenden Recherche die seinerzeit von Felix von Luschan in Berlin aufgenommenen Porträts des Soli heute zu seinen Nachfahren zurückkehren konnten, so verändert sich auch deren Status. Als historische Dokumente, die im heutigen Papua Neuguinea Anlass zur Rekonstruktion der eigenen Geschichte geben, überschreiten sie ihren ursprünglichen Herstellungskontext als reduzierende »Typenfotografien« und tragen dazu bei, noch heute dominante und asymmetrische Weltbilder der westlichen Geschichtsschreibung zu unterlaufen (Poole 2005, S. 160).

Der besondere Dank der Autorin gilt Maiyupe Par vom Christian-Jensen-Kolleg, Breklum, dessen Engagement einen Kontakt zu Solis und Eliesers Nachkommen in Papua-Neuguinea ermöglicht hat.

Ausstellungshinweis:

Zur Zeit ist diese Fotografie neben weiteren Fotografien und Objekten aus der Sammlung im Rahmen einer Ausstellung zu sehen, die von der Autorin dieses Beitrags kuratiert und aktuell verlängert wurde:


    Überleben im Bild. Wege aus der Anonymität anthropologischer »Typenfotografien« in der Sammlung Emma und Felix von Luschan

    Photoinstitut Bonartes
    Seilerstätte 22, 1010 Wien
    Öffnungszeiten: gegen Voranmeldung
    Dauer der Ausstellung: 30.07.2021 – 18.03.2022

    Zur Ausstellung ist ein begleitender Katalog erschienen:

    Katarina Matiasek (Hg.): Überleben im Bild. »Rettungsanthropologie« in der fotografischen Sammlung Emma und Felix von Luschan (=Beiträge zur Geschichte der Fotografie in Österreich, Band 21), Salzburg: Fotohof edition 2021, 192 Seiten mit 163 Abbildungen in Farbe und Schwarzweiß.

    Website zur Ausstellung
    Informationen zum Ausstellungskatalog

Literatur & Quellen:

CONRAD, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte, München: Beck 2016. Frühere Ausgabe (2008) im Bestand der UB Wien

DEINZER, Johann: »Missionsanstalt von Neuendettelsau (Bayern)«. In: Meinecke, Gustav (Hg.), Koloniales Jahrbuch. Beiträge und Mittheilungen aus dem Gebiete der Kolonialwissenschaft und Kolonialpraxis, Bd. 8, Berlin: Heymann 1895–96.

FARNBACHER, Traugott: Gemeinde Verantworten. Anfänge, Entwicklungen und Perspektiven von Gemeinde und Ämtern der Evangelisch-Lutherischen Kirche von Papua-Neuguinea, Berlin, Hamburg, Münster: LIT 1999. Exemplar im Bestand der UB Wien

FRÖHLICH, Susanne (Hg.): Als Pioniermissionar in das ferne Neu Guinea. Johann Flierls Lebenserinnerungen, Bd. 2: 1886–1941, Wiesbaden: Harrassowitz 2015. Exemplar im Bestand der UB Wien

HIERY, Hermann Joseph: »Die Kolonialverwaltung«. In: Gründer, Horst / Hiery, Hermann Joseph (Hg.): Die Deutschen und ihre Kolonien. Ein Überblick, Berlin: be.bra 2017, S. 179–200. Exemplar im Bestand der UB Wien

HIERY, Hermann Joseph: »Die deutsche Verwaltung Neuguineas 1884–1914«. In: ders. (Hg.), Die Deutsche Südsee 1884–1914. Ein Handbuch, Paderborn, München, Wien, Zürich: Schöningh 2002, S. 277–311. Exemplar im Bestand der UB Wien

HOWES, Hilary: »It is not so! Otto Finsch, Expectations and Encounters in the Pacific, 1865–85«. In: Historical Records of Australian Science, 22. Jg. (2011), S. 32–52.

von LUSCHAN, Felix: »Hr. Felix v. Luschan zeigt photographische Abbildungen eines Knaben aus Deutsch-Neu-Guinea«. In: Zeitschrift für Ethnologie (Verhandlungen der Berliner anthropologischen Gesellschaft), 25. Jg. (1893), Sitzung vom 27. Mai 1893, S. 273–275. Zeitschrift im Bestand der UB Wien

von LUSCHAN, Felix: Völker, Rasse, Sprachen, Berlin: Welt 1922, S. 154; Exemplar im Bestand der UB Wien
vgl. die Abguss-Sammlung von Rudolf Pöch bzw. die Haar-Sammlung von Emma und Felix von Luschan, Department für Evolutionäre Anthropologie der Universität Wien

MÄPPCHEN »Soli« aus dem Bestand Feldleitung und Lutheran Mission New Guinea 1890–1949, Signatur 7.19, Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern Nürnberg, Mission EineWelt. Die Originale zu Solis Briefen sind verschollen; für diese Auskunft dankt die Autorin dem Vikar Detlef A. Rose, Nürnberg, der die Kopien aus dem Besitz seines Vaters übernommen hat.

PILHOFER, Georg: Die Geschichte der Neuendettelsauer Mission in Neuguinea, Neuendettelsau: Freimund 1961–1963, 3 Bde.

POOLE, Deborah: »An Excess of Description: Ethnography, Race, and Visual Technologies«. In: Annual Review of Anthropology, 34. Jg. (2005), S. 159–179. Online verfügbar über die UB-Wien

ZIMMERMAN, Andrew: »Adventures in the Skin Trade. German Anthropology and Colonial Corporeality«. In: H. Penny, Glenn / Bunzl, Matti (Hg.): Worldly Provincialism. German Anthropology in the Age of Empire, Ann Arbor: University of Michigan Press 2003, S. 106–119. Online verfügbar über die UB-Wien

ZIMMERMAN, Andrew: Anthropology and Antihumanism in Imperial Germany, Chicago: University of Chicago Press 2010. Online verfügbar (2001) über die UB-Wien

Text: MMag.a Katarina Matiasek | Fotografie: (c) Universität Wien