Stummfilm mit ausdruckspsychologischem Experiment

Stummfilm mit ausdruckspsychologischem Experiment

Ausdruckspsychologisches Experiment, zwischen 1938–1945
Norbert Thumb (1903–1992) zugeschrieben
35 mm Nitrozellulosefilm, Filmpositiv
Dauer: 1 Min. 19 Sek.
Inv.-Nr.: FR-003
Aus der Historischen Sammlung des ehemaligen Instituts für Psychologie


Der hier vorgestellte Film ist einer von insgesamt vier Filmen, die Teil der Historischen Sammlung des ehemaligen Instituts für Psychologie (heute: Fakultät für Psychologie) der Universität Wien sind. In dem obigen Filmausschnitt ist eine von fünf männlichen Versuchspersonen zu sehen, denen im Zuge eines Experiments bei Bewegen eines Gerätes – eines Expanders – ein elektrischer Strom angelegt wurde. Nach Ansicht der Versuchsleiter müsse in dieser Situation eine echte soldatische Wesensart die eigenen Gesichtszüge beherrschen können. Obwohl bei der Filmrolle keine Datierung vorzufinden ist, lässt sich aufgrund des Inhalts vermuten, dass der Film in der Zeit des Nationalsozialismus aufgenommen wurde. Von Norbert Thumb (1903–1992) und weiteren Mitarbeitern des ehemaligen Instituts für Psychologie wurde diese ausdruckspsychologische Filmaufnahme höchstwahrscheinlich produziert und für den Unterricht zur Untersuchung der Mimik verwendet. Denn in seiner ab 1940 ausgeübten Tätigkeit als Psychologe der Deutschen Wehrmacht konzentrierte sich Thumb auf die Charakterologie und Ausdruckspsychologie, mit denen er die Charakterstärke und die Aufopferungsbereitschaft von Probanden zu messen versuchte.

Norbert Thumb kam über die Psychotechnik zur Psychologie. Die auf die praktische Anwendung psychologischer Methoden fokussierte "Psychotechnik" wurde beispielsweise von Arbeitsämtern zum Zweck der Berufsberatung und Eignungsuntersuchung genutzt. Die vermehrt praktische Orientierung der Psychologie war auch ein Bestreben der Nationalsozialisten. Zunächst hatte vor allem die Wehrmacht Bedarf an Psychologen, die solche Eignungsuntersuchungen durchführten. Die Psychotechnik wurde dabei um Methoden der Charakterologie und Ausdruckspsychologie ergänzt, um einem ganzheitlichem Anspruch gerecht zu werden. Dieser neue Fokus der Psychologie unter dem Nationalsozialismus schlug sich auch in der universitären Ausbildung nieder. Ab April 1941 standen vermehrt praktische Fächer wie „Charakterkunde und Erbpsychologie“, „Psychologische Diagnostik“ und „Angewandte Psychologie“ auf dem Lehrplan – allesamt Teil der neu eingeführten Diplomprüfungsordnung. Die Historische Sammlung des ehemaligen Instituts für Psychologie umfasst – neben dem hier vorgestellten Objekt – auch diverse Unterlagen Norbert Thumbs zu Lehrveranstaltungen zur Ausdrucksanalyse, in welchen dieser Film höchstwahrscheinlich als Anschauungsobjekt diente. Die enge Kooperation mit der Wehrmacht und in der Folge auch mit anderen nationalsozialistischen Institutionen – wie der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und der staatlichen Rüstungsindustrie – ermöglichten die anhaltende Arbeit des Psychologischen Instituts auch in den späteren Kriegsjahren. Sie ist aber auch ein sehr anschauliches Beispiel dafür, wie umfassend der Einfluss der Staatsführung auf die Wissenschaft war.

Die Filmtechnik hat ihre Anfänge im ausgehenden 19. Jahrhundert und seitdem keine grundlegenden technischen Veränderungen erfahren. Das Trägermaterial der ersten Filme war Nitrozellulose, das bis in die 1950er Jahre fast ausnahmslos für 35 mm-Film, darunter auch wissenschaftliche Filmaufnahmen, verwendet wurde. Nitrozellulose ist ein feuergefährliches Material, das sich bei fortschreitender Zersetzung selbst entzünden kann und dessen Feuer durch den beim Verbrennen von Nitrozellulose freigesetzten Sauerstoff kaum gelöscht werden kann. Aus diesem Grund werden Filme aus Nitrozellulose idealerweise nur in speziell dafür eingerichteten Räumlichkeiten gelagert. Auch der oben dargestellte Film im gängigen 35 mm-Format ist aus Nitrozellulose und ist somit kennzeichnend für einen typischen Nitrozellulosefilm. Genauer gesagt handelt es sich um ein auf ca. 1938–1945 datierbares Stummfilm-Positiv, das gleichzeitig eine Kopie einer Negativ-Aufnahme ist, und dessen Abspieldauer 1 Minute und 19 Sekunden beträgt.

Bis vor kurzem lagerte dieser Stummfilm, zusammen mit den weiteren Filmrollen, unerschlossen im Archiv der FB Philosophie und Psychologie. Gemeinsam mit acht Magnetbändern wurden die Filme als audiovisueller (AV) Teilbestand im Abschlussprojekt „mediathek.psychologie“ im Rahmen des Universitätslehrganges Library and Information Studies im Frühjahr bis Herbst 2021 bearbeitet. Zum Schutz und Erhalt der analogen AV-Objekte wurde ein Konzept zur bestmöglichen bestandserhaltenden und konservatorischen Aufbewahrung entwickelt und zum größten Teil bereits umgesetzt. Wie notwendig es ist, vorbeugende Maßnahmen, wie eine sachgemäße Unterbringung, für historische AV-Objekte zu ergreifen, kann mit dem ausgewählten Nitrozellulosefilm gut veranschaulicht werden: Das Trägermaterial wies bereits starke Zersetzungserscheinungen und Verklebungen – typisch für Nitrozellulose – an den äußeren Rändern auf und gefährdete somit auch die beiden anderen in derselben Metalldose aufbewahrten Filmrollen. Aus diesem Grund war besonders die Digitalisierung dieses Films (und aller anderen AV-Objekte der Sammlung) von großer Bedeutung. Dazu wurde das Filmarchiv Austria beauftragt, das – obwohl die Filmrolle schon Zersetzungserscheinungen aufgezeigt hatte – die Aufnahmen ohne Datenverlust digitalisieren konnte. Es war lediglich das Zerschneiden des Filmrandes notwendig, was vom Filmarchiv Austria fotographisch dokumentiert wurde.

Mit der Herstellung einer digitalen Kopie kann nicht nur das physische Objekt geschont werden, sondern auch ein Beitrag zur Langzeitarchivierung und Sichtbarmachung geleistet werden. Zu diesem Zweck ist das Digitalisat dieser Filmrolle, wie auch die Digitalisate der anderen AV-Objekte der Historischen Sammlung, in PHAIDRA verfügbar. Unter den Collections "Magnetbänder" und "Filmrollen" sind die im Zuge dieses Projekts erschlossenen und digitalisierten AV-Objekte alle einsehbar. Zudem sind die beiden Collections des Projekts “mediathek.psychologie” mit den Collections des vorangegangenen Projekts “diathek.psychologie” in dem ein weiterer Teil der Sammlung bearbeitet wurde, verknüpft. Obwohl die Filmrolle aufgrund ihres Trägermaterials, und der daraus resultierenden gesonderten Lagerung, als physisches AV-Objekt nur mehr eingeschränkt für Konsultationen vor Ort herangezogen werden kann, konnte ihr Inhalt samt den erforschten Hintergrundinformationen nun über PHAIDRA für weiterführende Forschungsprojekte sowie als Lehrmaterial zugänglich gemacht werden.

Digitalisat in PHAIDRA

Literatur & Quellen:

ASH, Mitchell G.: Die Entwicklung des Wiener Psychologischen Instituts 1922-1938. In: Karl Bühler’s Theory of Language: Proceedings of the Conferences Held at Kirchberg, August 26, 1984 and Essen, November 21-24, 1984. Hrsg. v. Achim Eschenbach, Amsterdam/Philadelphia: J.Benjamins Pub. Co., 1988, S. 303–25.

BENETKA, Gerhard: Bezugnahmen auf Wissenschaft im Nationalsozialismus: Das Beispiel der Psychologie. In: Sozialtheorie. Herausgegeben von Andreas Kranebitter und Christoph Reinprecht. 1. Aufl., S. 93–114. Bielefeld: transcript Verlag, 2019. Online verfügbar

BENETKA, Gerhard: Schulreform, Pädagogik und Psychologie: Zur Geschichte des Wiener Psychologischen Instituts. In: Paedagogica Historica 40/5–6 (Oktober 2004): S. 705–17. Online verfügbar

DEGGELLER, Kurt: Bestandserhaltung audiovisueller Dokumente. Praxiswissen. Berlin/Boston: De Gruyter Saur 2014.

FEUERHELM, Herbert: „Thumb, Norbert“. In: Deutschsprachige Psychologinnen und Psychologen 1933–1945. Hrsg. v. Uwe Wolfradt, Elfriede Billmann-Mahecha und Armin StockWiesbaden: Springer, 2017, S. 442–444. Online verfügbar

THUMB, Norbert: Unveröffentlichte Manuskripte.

WIESER, Martin: Norbert Thumb und der Aufstieg der angewandten Psychologie in der 'Ostmark'. In: Psychologie in Österreich 39/1–2 (2019). S. 106–115.

Stummfilm mit ausdruckspsychologischem Experiment

Text: Katharina Heinz, BA MA PhD, Verena Jochum, Maria Punz; Fotografin: Katharina Heinz, BA MA PhD; Projektbetreuung: Mag.a Claudia Feigl, MAS & Veronika Weisswasser