Runder Rechenschieber ("Rechenscheibe") mit Lederetui, um 1920
Gebrüder Wichmann, Berlin
Maße: 9 x 6,7 x 1,2 cm
Inventarnummer: 1-9
Aus der Historischen Sammlung der Fachbereichsbibliothek Wirtschaftswissenschaften und Mathematik
In der Historischen Sammlung Mathematik befinden sich unterschiedliche Typen von Rechengeräten, die sich auf verschiedene historische Recheninstrumente und -methoden zurückführen lassen. Die Sammlung beinhaltet neben Rechenstäben - sowohl aus Holz, als auch aus Kunststoff - eine Rechenscheibe sowie jeweils zwei Addiatoren und zwei „Universalrechner Multor“. Rechengeräte werden schon seit langer Zeit eingesetzt: Bereits um 1000 v. Chr. wurden in China Rechenbretter verwendet, auf denen man rechnete, indem man Kugeln hin und her schob. Auch im alten Rom wurden diese eingesetzt. Dort erhielten sie den Namen Abakus. Galileo Galilei (1541–1642) machte den sogenannten Proportionszirkel bekannt, der bis ins 19. Jahrhundert benutzt wurde
Bei der vorgestellten Rechenscheibe handelt es sich laut einer in einem Katalog aus dem Jahr 1911 zu lesenden Beschreibung um einen "neuen kreisförmigen Rechenschieber Nr. 1399 in Uhrform (8mm stark) mit Lederbeutel für die Westentasche in einer verbesserten Version von Haldens' Calulex". Die Skalen der Rechenuhr sind beiderseits mit glashellen, nicht vergilbenden, bruchsicheren Zelluloidscheiben umschlossen, die je einen radialen Indexstrich tragen und den Läufer der Rechenstäbe ersetzen. Das Gehäuse, das in seiner Form einer Taschenuhr nachempfunden ist, besteht aus Nickel. Folgende Rechnungsarten lassen sich mit dem runden Rechenschieber ausführen: Multiplikation, Division, Proportion, Quadrat- u. Kubikzahlen, Quadratwurzeln, Kubikwurzeln, Multiplikation und Division von Quadratzahlen, umgekehrte Verhältnisse, Logarithmen, Sinusfunktionen, Verwandlung gemeiner Brüche in Dezimalbrüche und umgekehrt, Verwandlung von Rechtecken in Quadrate, Diagonale von Quadraten, Flächeninhalte, Kubikinhalte usw.
In der Beschreibung ist weiters nachzulesen:
Gegenüber der früheren Rechenuhr (Halden Calculex) ist bei der jetzigen Ausführung die Einstellung, respektive die Verstellung der Skalen zu einander wesentlich verbessert worden. Sie erfolgt durch ein Drehen eines Knopfes wie bei den Remontoir-Taschenuhren. Das Einstellen wird dadurch ganz leicht und gleichmäßig, nicht ruckweis, bewerkstelligt, jede Zahl wird sofort genau getroffen, da die Einstellvorrichtung ähnlich einer Mikrometerschraube wirkt. Sie vereinigt die Vorteile eines Rechenstabes mit denen einer Rechentabelle. Infolge der Kreisform erfolgt das Ablesen fortlaufend ohne Unterbrechung. Die meisten Rechnungen erfordern nur eine Einstellung. Kubikwurzeln sind direkt ablesbar. Nach Einstellung zweier Zahlen auf ein bestimmtes Verhältnis bilden sämtliche übereinanderstehende Zahlen eine fortlaufende Proportion in demselben Verhältnis. Die Skalen für umgekehrte Verhältnisse liegen dicht beieinander und können ohne Läufer eingestellt werden.
Das Unternehmen "Wichmann" wurde 1873 von Emil Wichmann in Berlin, Karlstraße 13 gegründet. Bald wird er durch seinen Bruder Gustav unterstützt und die Firma zu "Gebrüder Wichmann" umbenannt. Die Vision des Unternehmens, mit Produkten zu handeln, die im weitesten Sinne mit technischem Zeichnen und Vermessung zu tun habn, war aufgrund der damaligen starken Nachfrage nach diesen Geräten führte die Firma bald zu wirtschaftlichem Erfolg.
"Gebr. Wichmann" verdankte einen Großteil seines frühen Wachstums der Entscheidung, selbst in die Produktion einzusteigen. So sind die von Wichmann hergestellten Zeichengeräte in einigen ihrer frühen Kataloge mit einem hochgestellten W gekennzeichnet. Neben dem Einzelhandel mit Rechenschiebern verschiedener Hersteller führte Wichmann auch eigene Rechenschieber aus Pappe ein, die durch das "DRGM-Patent 196001" von 1903 geschützt waren. 1916 ging die Leitung des Unternehmens an Emils Söhne Herbert und Erhard (1887-1962) über.
1920 wurde die Produktionsfirma "R. Reiss" aus Bad Liebenwerda in das Unternehmen eingegliedert. Das 1882 von Robert Reiss gegründete Unternehmen stellte ein breites Spektrum an Zeichen- und Vermessungsinstrumenten her. Der Verlag „Allgemeine Vermessungs-Nachrichten“ von R. Reiss wurde später in einen eigenständigen Verlag - den "Herbert Wichmann-Verlag", umgewandelt und von R. Reiss getrennt. Im Jahr 1926 sicherte sich die Firma "Gebr. Wichmann" die Mehrheit des Unternehmens "Max Hildebrand" aus Freiberg (Sachsen), einer der ältesten Fabriken zur Herstellung geodätischer Instrumente. Somit standen zwei bedeutende Produktionsbetriebe unter dem koordinierenden Einfluss der Gebr. Wichmann. Die Firma „Hildebrand – Wichmann“ entwickelte sich zu einer der modernsten Fabriken der feinmechanischen Industrie Deutschlands.
BRUDERER, Herbert: Meilensteine der Rechentechnik. Band 1: Mechanische Rechenmaschinen, Rechenschieber, Historische Automaten und wissenschaftliche Instrumente. Berlin/Boston 2018.
FRANKL, Martina | GRASS, Angelika | LOIDL, Stephanie: "Erschließung der Historischen Sammlung Mathematik an der Fachbereichsbibliothek Wirtschaftswissenschaften und Mathematik der Universitätsbibliothek Wien". Projektarbeit im Rahmen der Grundausbildung des Universitätslehrganges "Library and Information Studies an der Österreichischen Nationalbibliothek", Wien 2020. Online verfügbar
GALLE, Andreas Wilhelm Gottfried: Mathematische Instrumente. Leipzig/Berlin 1912.
MEYER ZUR CAPELLEN, Walther: Mathematische Instrumente. Leipzig 1949.
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VOLLRATH, Hans-Joachim: Zeichnen Messen Rechnen. Mathematische Instrumente des Industriezeitalters. Dettelbach a.M. 2019 (= Bestandkatalog der Sammlung Historische mathematische Instrumente des Instituts für Mathematik der Julius-Maximilians-Universität Würzburg).
WILLERS, Adolf: Mathematische Instrumente. München/Berlin 1943.
WILLERS, Adolf: Mathematische Maschinen und Instrumente. Berlin 1951.
Text: Martina Frankl | Foto: Claudia Feigl, untere Abb.: planimetrica.jimdofree.com