Briefumschlag, von Ludwig Boltzmann mit eigenhändigen Notizen versehen und als Lesezeichen verwendet
Maße: 21,5 x 25 cm mit Ausriss links
Signatur: W8-72
Aus der Nachlass-Sammlung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik und Fachbereichsbibliothek Chemie
Diesen Briefumschlag hat der bedeutende Wiener Physiker Ludwig Boltzmann (1844–1906) während seiner Lektüre des Bandes „Die Potentialfunction und das Potential“ von Rudolf Clausius (1822–1888) für Notizen benutzt und dann – wohl als Lesezeichen – im Buch gelassen. Dort verblieb der Umschlag mehr als 100 Jahre, ehe er im Sommer 2023 von drei angehenden Bibliothekarinnen entdeckt wurde, die im Rahmen ihres Abschlußprojekts des Universitätslehrgangs "Library and Information Studies" Teile des Altbestands der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik sichteten, um seltene und wertvolle Ausgaben für die Rarasammlung der Bibliothek zu identifizieren. Aufgrund der Adressierung des Kuverts, vor allem aber der charakteristischen Handschrift, ist mit Sicherheit davon auszugehen, dass es sich um ein Autograph Ludwig Boltzmanns handelt. Das Blatt wurde daher in die Nachlasssammlung der Zentralbibliothek für Physik übernommen, nicht ohne die Herkunft und den inhaltlichen Bezug zu dem Band von Clausius zu dokumentieren. Dass Boltzmann hier ein separates Blatt für seine Notizen verwendet, ist wahrscheinlich darauf zurückzuführen, dass das Buch nicht ihm selbst gehörte, sondern aus der Institutsbibliothek des K.K. Physikalischen Instituts stammt. Bücher und Sonderdrucke aus Boltzmanns privater Bibliothek weisen dagegen häufig handschriftliche Notizen und Kommentare direkt am Text auf, oft in Boltzmanns nur schwer lesbarer Stenografie.
Das hier vorgestellte Beispiel ist kein Einzelfall: Obwohl es sich bei Bucheinlagen in der Regel um ephemere Materialien handelt die – wie in unserem Fall der Briefumschlag – während der Lektüre schnell zur Hand waren, überdauern diese in Bibliotheksbänden nicht selten Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte. Aufgefunden werden sie häufig, wenn Altbestände retrokatalogisiert, digitalisiert oder in anderer Weise systematisch nachbearbeitet werden.
Ludwig Boltzmann, der vor allem wegen seiner Arbeiten zur kinetischen Gastheorie, Atomtheorie und Thermodynamik zu den wichtigsten Physikern seiner Zeit zählt, war der Universität Wien in vielfacher Weise verbunden: Hier hatte er ab 1863 Mathematik und Physik studiert, als Assistent gewirkt, 1866 den Doktortitel und 1868 die Venia docendi erlangt. Gleich drei Mal wurde Boltzmann an die Universität Wien berufen, wo er Professuren für Mathematik (1873–1876) und Theoretische Physik (1894–1900 sowie 1902–1906) innehatte und ab 1903 auch Vorlesungen zur Naturphilosophie hielt. Weil Boltzmann immer wieder nach wenigen Jahren Rufe ins Ausland annahm, musste er bei seiner Berufung im Jahr 1902 ehrenwörtlich erklären, nun dauerhaft in Wien bleiben zu wollen. Kollegen und Schüler schildern Boltzmann nicht nur als brillanten Physiker, sondern auch als herausragenden akademischen Lehrer und außergewöhnlichen Menschen.
„Äußere Formen haben ihm gar nichts bedeutet und er hat keine Scheu gehabt, gefühlsbetonte Worte zu gebrauchen“ erinnert sich die Physikerin Lise Meitner (1878–1968), die ab 1901 Vorlesungen bei Boltzmann besuchte. „Die paar Studenten, die an dem fortgeschrittenen Seminar teilnahmen hat er von Zeit zu Zeit in sein Haus eingeladen. Dann hat er uns vorgespielt – er war ein sehr guter Klavierspieler – und allerlei persönliche Erlebnisse erzählt. […] Er war kein Mann der großen Gesellschaft, dazu war er viel zu naiv. Er war eine Art ‚reiner Tor‘, voll Herzensgüte, Glaube an Ideale und Ehrfurcht gegenüber den Wundern der Naturgesetzlichkeiten.“ Meitner erinnert sich jedoch auch an Boltzmanns schwere Depressionen, die wahrscheinlich Auslöser seines tragischen Selbstmords 1906 in Duino waren.
Die Österreichische Zentralbibliothek für Physik verfügt über einen kleinen aber inhaltlich interessanten Bestand an Dokumenten aus dem Nachlass Ludwig Boltzmanns, darunter neben dem hier vorgestellten Stück auch Briefe an Boltzmanns Freund und Lehrer Josef Loschmidt (1821–1895), ein eigenhändiges Curriculum Vitae und einen Beweis des Pythagoreischen Lehrsatzes, den Boltzmann während seiner Schulzeit in Linz gemeinsam mit seinem Bruder Albert (1846–1863) abgefasst hat.
BRODA, Engelbert: Ludwig Boltzmann. – Mensch, Physiker, Philosoph. Wien, 1955. Online verfügbar
CERCIGNANI, Carlo: Ludwig Boltzmann. – The man who trusted atoms. Oxford, 2006. Exemplar im Bestand der UB Wien
KRICKL, Martin: Die Bucheinlage – Annäherungen an ein verdecktes Objekt. In: Medium Buch Wolfenbütteler interdisziplinäre Forschungen. 1(2019), S. 189–206. Online verfügbar (Volltext des Bandes, pdf)
KUTTNER, Sven: Fundstück – Relikt – Spur. Bucheinlagen in der Bibliothekshistorischen Sammlung der Universitätsbibliothek der LMU München. In: Bibliotheksforum Bayern 15(2021), S. 38–40. Online verfügbar (pdf)
ÖSTERREICHISCHE ZENTRALBIBLIOTHEK FÜR PHYSIK: Ludwig Boltzmann 1844-1906. – Eine Ausstellung der Österreichischen Zentralbibliothek für Physik. Wien, 2006. Online verfügbar
Text: Christof Capellaro, M.A. | Scans: Österreichische Zentralbibliothek für Physik, UB Wien