Glasmodell eines Seestiefmütterchens

Glasmodell eines Seestiefmütterchens

"Seestiefmütterchen" (Renilla muelleri)
Glasmodell von Leopold und Rudolf Blaschka, um 1880
Maße: 10 x 19 x 12 cm
Aus der Zoologischen Sammlung


Zerbrechlich wie ihre Vorbilder aus der Natur, fast lebendig scheinen die gläsernen Nachbildungen wirbelloser Meerestiere. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts entdeckte die noch junge Meeresbiologie zahlreiche neue Tier- und Pflanzenarten, die sie in wissenschaftlichen Aufsätzen, als Illustrationen oder in Alkohol konserviert von ihren Forschungsreisen nachhause brachte. Auf diesem Weg verloren die eben erst entdeckten Meeresbewohner allerdings schnell an Attraktivität. Die weichen Körper der Quallen, Seeanemonen oder Tintenfische wirkten als Präparate verkrampft und farblos, keinesfalls lebensecht. Die dreidimensionale Form- und Farbvielfalt wirbelloser Tiere wollte sich auf Bildtafeln und in wortreichen Beschreibungen nur ungenügend mitteilen.

Eine Alternative boten die Modelle aus der Werkstatt von Leopold Blaschka (1822–1895). Ab den 1860er Jahren fertigte der in Böhmen geborene Juwelier und Glashandwerker gemeinsam mit seinem Sohn Rudolf (1857–1939) über mehrere Jahrzehnte künstliche Meerestiere für naturkundliche Sammlungen.
Den Zeitgenossen der Blaschkas erschien Glas als ideales Material zur Nachahmung der transparent-fließenden Gestalt zahlreicher Meeresbewohner. Der besondere Schauwert der Objekte machte sich bemerkbar im aufwändigen handwerklichen Herstellungsprozess, in der Verwendung spezieller Glasrezepturen und auf Wasserbasis eigens hergestellter Farben, deren genaue Zusammensetzung bis heute ein Geheimnis ist. Auch heutige Betrachter sind fasziniert von der großen künstlerischen Qualität der Modelle, der ein intensives Studium der Natur zugrunde liegt. Die Blaschkas hatten mehrere Aquarien zur Beobachtung lebender Meerestiere. Anregungen erhielten sie zudem durch das Studium von Illustrationen und Schriften damals führender Zoologen, deren wissenschaftliche Autorität den Modellen zu großer Popularität und internationaler Wahrnehmung verhalf.
Weltweit erwarben naturhistorische Museen und Universitäten die Modelle als Anschauungsobjekte, die es ermöglichten, neue Arten und ihre wichtigsten Merkmale aus nächster Nähe und in Ruhe zu studieren.

Mit insgesamt 145 Modellen besitzt die Zoologische Sammlung der Universität Wien einen besonders umfangreichen und bedeutenden Bestand an Glasmodellen. Ihr Ankauf verdankt sich der Lehr- und Forschungstätigkeit des berühmten an der Universität Wien tätigen Zoologen Carl Claus (1835–1899). Bis in die Zwischenkriegszeit wurden sie als Lehrobjekte benutzt, bevor sie für Jahrzehnte vergessen wurden. Versteckt im Zwischenboden eines Sammlungsschranks überdauerten sie mehrere Jahrzehnte unbeschädigt, bevor sie Anfang der 1980er-Jahre beim Umzug der Zoologischen Sammlung an den heutigen Standort im 9. Wiener Gemeindebezirk wiederentdeckt wurden. In den letzten Jahren wurde die Zoologische Sammlung aus konservatorischer und wissenschaftshistorischer Perspektive verstärkt in den Blick genommen. Die Glasmodelle wurden restauriert und sind derzeit Gegenstand umfassender materialwissenschaftlicher Untersuchungen an der Universität Wien sowie am Natural History Museum Dublin. Zudem entsteht an der Universität Wien eine wissenschaftshistorische Dissertation zur Geschichte der Blaschka-Modelle im internationalen Kontext. Dabei lassen sich die Glasmodelle nicht nur als gläserne Stellvertreter echter Meeresbewohner verstehen. Indem sie Fragen nach ihrer Herstellung und historischen Verwendung aufwerfen, verkörpern sie auch ein Stück Disziplin- und Universitätsgeschichte. Indem sie vergangene Vorstellungen des Lebendigen illustrieren, machen sie zugleich ein Stück Naturgeschichte sinnlich nachvollziehbar.

Ausstellungshinweis:

Das Seestiefmütterchen ist neben 44 weiteren Modellen ab 06. Mai 2015 im Rahmen der
Jubiläums-Ausstellung Das Wissen der Dinge  zu sehen:

Ort: Naturhistorisches Museum Wien, Saal 50 (2. Stock)
Adresse: Maria Theresienplatz 1, 1010 Wien
Öffnungszeiten: Do–Mo 9:00–18:30 Uhr, Mi 9:00–21:00 Uhr
Dauer der Ausstellung: 06.05.2015–31.08.2015

Text: Mag. Florian Huber, Maximilian Petrasko, B.A.; Foto: © Guido Mocafico