Modell einer Sporenkapsel des Mooses Brachythecium rutabulum

Modell einer Sporenkapsel des Mooses Brachythecium rutabulum

Robert Brendel (ca. 1821–1898), Berlin um 1885
Gelatine, Holz, Draht und Lack
Maße: H 44 cm, L 41 cm
Aus der Historischen Sammlung des ehemaligen Instituts für Pflanzenphysiologie


Eine der schönsten und reichhaltigsten Pflanzenfamilien bilden die Moose, welche als echte Kinder des Waldes gesellig oft meilenweit den Boden überziehen oder den öden Sumpf bedecken, auch wohl in Form von Polstern auf kahlem Fels, auf Dächern und Bäumen oder feuchten Stellen aller Art sich ansiedeln. Besonders die Laubmoose zeigen die verschiedenartigste Gestaltung und mit ihren zarten Stämmchen, ihrem feinen Blattwerk ahmen sie nicht selten en miniature die Gestalt der hohen Bäume nach.

Mit diesen Worten, noch nicht ganz frei von biedermeierlicher Begeisterung für die Naturgeschichte und einer allgemeinen Naturseligkeit, leitet Michael E. Eduard Eidam (1845–1901) seine 1885 erschienene Erläuterung zum Modell der hier vorgestellten Mooskapsel ein. Der wissenschaftliche Anspruch der Brendel-Modelle wurde ja allgemein durch gedruckte Erläuterungen erhöht, die von Fachwissenschaftern geschrieben wurden. Eidam, seit 1873 Assistent am Pflanzenphysiologischen Institut der Kgl. Universität Breslau, verfasste neben der Beschreibung für Kleeseide und Mooskapsel  auch die Erläuterungen zu den Schimmelpilz-, Hefe- und Bakterien-Modellen sowie zum Roggenkorn und den insektenfressenden Pflanzen.

Angespornt durch die große internationale Anerkennung und diverse Auszeichnungen für seine Arbeit erweiterte Robert Brendel (ca. 1821–1898) den Bestand an käuflichen Modellen im Jahr 1885 durch fünf, zum Teil äußerst aufwändige, Produktionen: Die Modelle einer Sporenkapsel (historisch "Blüthe") des Mooses Brachythecium rutabulum, ferner der Blüten einer Osterluzei (Aristolochia sipho), des Hopfens (Humulus lupulus) und einer Kleeseide (Cuscuta trifolii), sowie der in Rotklee eingedrungenen Saugwurzeln (Haustorien) der Kleeseide wurden in diesem Jahr neu in Produktion genommen. Im (Preis)-Verzeichnis zu den botanischen Modellen  schreibt Brendel dazu:

Alle meine mit äusserstem Fleisse naturgetreu hergestellten Modelle erweisen sich durch ihre Zerlegbarkeit und vielfache Vergrösserung als das beste Lehrhilfsmittel für den botanischen Unterricht, indem sie selbst die kleinsten mit dem blossen Auge wahrnehmbaren Theile klar zur Darstellung bringen.

Für die herstellungstechnisch schwierigsten Modelle der damaligen Produktion, eben die Mooskapsel und die Kleeseide-Saugwurzeln, erbat sich Brendel eine Lieferzeit von zwei bis drei Monaten. Der "Fleiß" hatte natürlich auch seinen Preis: Die beiden Modelle waren, zusammen mit der Cuscuta-Blüte, die teuersten Posten in Brendels Sortiment von 1885. 50 Mark kostete die Sporenkapsel, 35 Mark die Blüte der Kleeseide, 30 Mark die Haustorien im Rotklee. Ein "normales" Blütenmodell war zwischen 9 und 18 Mark zu bekommen (zum Vergleich: Um 1900 kostete ein Kilo Schweinefleisch rund 1 Mark 50 Pfennige, die Kaufkraft nach dem Verbraucherpreisindex 2008 liegt bei 6,40 Euro für 1 Mark aus 1881).

Das Modell der Sporenkapsel von Brachythecium ist vollständig zerlegbar und bestand ursprünglich aus sechs Teilen: Gestielte Kapsel, Deckel (Operculum), Haube (Calyptra), abnehmbare Oberseite der Kapsel, Ring (Annulus) und Mittelsäulchen (Columella) im Inneren. Als Hauptmaterial wurde Gelatine gewählt, ein für Modelle insgesamt ungewöhnlicher, bei Brendel aber häufig verwendeter Werkstoff: So wurden beispielsweise auch die Modelle der Prothallien von Schachtelhalm (Equisetum) und Wurmfarn (Aspidium filix-mas), jene des Sporangiums des Farns Pteris serrulata, der Blattfieder mit Fangblase des Wasserschlauchs (Utricularia vulgaris) und der Blüten der Waldkiefer (Pinus silvestris) mehrheitlich aus Gelatine gefertigt.

Die Mooskapsel wurde dabei höchstwahrscheinlich als Abformung von einem Gipskörper hergestellt, wie sich bei Restaurierungsarbeiten zeigte. Der Annulus war aus Holz gefertigt. In der Zerlegbarkeit, wie auch der Empfindlichkeit des Materials allgemein, liegt die Hinfälligkeit dieser komplexen Brendel-Modelle begründet. Im Zuge einer aufwändigen Restaurierung konnten zwar einzelne Zähne an der Mündung der Kapsel (Peristom-Zähne) ergänzt werden (bei Brachythecium ist das Peristom zweireihig, es finden sich je 16 äußere und innere Peristom-Zähne), der nicht originalgetreu nachzubildende Deckel, die Haube und Teile des beweglichen Ringmechanismus sind bei dem vorliegenden Modell jedoch leider verloren. Die fehlenden Zähne wurden mit Wachs modelliert, und mit Gelatine abgeformt und verklebt. Nach der Reinigung des gesamten Modells mit Spiritus wurde es mit Schellack dünn überfasst, um die Transparenz des Werkstoffes zu betonen.

Zur Materialität von Brendel-Modellen und den damit verbundenen Problemstellungen hinsichtlich Lagerung, Konservierung und Restaurierung wurde bisher noch wenig geforscht und publiziert. Brendel fertigte seine Modelle aus Papiermaché (wie beispielsweise das Blütenmodell des Blauen Eisenhuts), Holz, Gelatine, Hemdstoff, Glas und Glasperlen, Federn, Kolophonium, Rattan und Rohrbrei. Die Sockel bestanden meist aus gedämpftem Birnenholz. Die Materialkombination in einem Modell scheint hier konservatorisch grundsätzlich weniger ein Problem zu sein, als es bei einigen Blaschka-Modellen der Fall ist, dennoch gehören natürlich gerade die Gelatine-Modelle zu den besonders schützenswerten und empfindlichen Objekten. Bei der fachgerechten Restaurierung, Konservierung, Lagerung und Dokumentation der materiellen biologischen Modelle ist ein Zusammenspiel von Fachwissenschaftern, Künstlern und Historikern nicht nur wünschenswert, sondern auch notwendig, gilt es doch noch vieles zu den Materialien und zur Herstellungsweise im speziellen, wie zu den "Objektbiografien" im allgemeinen in Erfahrung zu bringen.

Anm. der Redaktion:
Die Modelle wurden mit von der DLE Bibliotheks- und Archivwesen zur Verfügung gestellten Mitteln zur Bestandserhaltung und Restaurierung von Sammlungsbeständen der Universität Wien professionell restauriert.

Ausstellungshinweis:

Die Sporenkapsel ist neben 9 weiteren botanischen Modellen zurzeit im Rahmen der
Jubiläums-Ausstellung Das Wissen der Dinge  zu sehen:

Ort: Naturhistorisches Museum Wien, Saal 50 (2. Stock)
Adresse: Maria Theresienplatz 1, 1010 Wien
Öffnungszeiten: Do–Mo 9:00–18:30 Uhr, Mi 9:00–21:00 Uhr
Dauer der Ausstellung: 06.05.2015–10.01.2016

Literaturhinweise:

BRAUN, P. (2015): Objektbiographie. Ein Arbeitsbuch.- 138 S. (= Laborberichte, 1), Weimar (Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften). Exemplar im Bestand der UB Wien
GROTZ, K. (ed.) (2015): ModellSchau - Perspektiven auf botanische Modelle.- 178 S., Berlin (Botanischer Garten und Botanisches Museum Berlin). Exemplare im Bestand der UB Wien
G. FIORINI, L. MAEKAWA & P. STIBERIC (2007): La "Collezione Brendel" di modelli di fiori ed altri organi vegetali del dipartimento di Biologia Vegetale dell'Università degli Studi di Firenze.- Museologia scientifica 22(2): 249-273.
G. FIORINI, L. MAEKAWA & P. STIBERIC (2008): Save the Plants: Conservation of Brendel Anatomical Botany Models.- The Book and Paper Group annual 27: 35-45. Digitalisat 
G. Sibilio, V. Rocco, B. Menale & M. R. Barone Lumaga (2008/09): La collezione storica dei modelli di strutture vegetali dell’Orto Botanico di Napoli.- Delpinoa 50/51: 85-92.

Text: Mag. Matthias Svojtka, Fotos: Alice Schumacher (Naturhistorisches Museum Wien) und Matthias Svojtka, Restaurierung: Sonja Bulker.
Mit herzlichem Dank an Frau Dr. Graziana Fiorini (Università degli Studi di Firenze) für wertvolle Hinweise zur Restaurierung.