Permutatives Kreisgedicht aus dem Coelum Liliveldense, Wien 1649
Kupferstich auf Papier
Maße: 31 x 19,3 cm
Signatur: UBW I-247262
Aus der Sammlung Alte und Wertvolle Bestände der Universitätsbibliothek Wien
Wer im Jahr 2025 vor der Aufgabe steht, zu einer Doktorpromotion Glückwünsche in lateinischen Versen zu verfassen, wird schnell versucht sein, dies an ChatGPT zu delegieren oder sich zumindest Inspiration von einer künstlichen Intelligenz zu holen. Die Frage, wie Texte zu bestimmten Themen automatisiert erzeugt, insbesondere lateinische Gedichte ohne Mühe, ja selbst ohne Sprachkompetenz geschaffen werden könnten, beschäftigte jedoch schon vor OpenAI: Experimente mit Systemen, in die ein Textvorrat eingespeichert wird, um daraus in fast unbegrenzter Menge neue Texte entsprechend eingeübten Regeln zu generieren, führten unter anderem zur Konstruktion von permutativen Gedichten in Kreisform, von denen die Universitätsbibliothek Wien ein frühes, vielleicht sogar das früheste Beispiel besitzt.
Im Jahr 1649 erschien beim Wiener Drucker Mattaeus Cosmerovius (1606–1674) ein dünnes Bändchen mit dem Titel Coelum Liliveldense („Lilienfelder Himmel“); dieser bezieht sich auf das Zisterzienserstift Lilienfeld in Niederösterreich, das in diesem Jahr besonderen Anlass zum Feiern hatte: Sechs Angehörige des Konvents wurden an der Universität Wien zu Doctores der Theologie promoviert. Ordensbrüder und Studienkollegen aus Stift Heiligenkreuz gratulierten mit der Publikation des Coelum Liliveldense, die dem Lilienfelder Abt Cornelius Strauch (1611–1650) und den auf dem Titelblatt genannten "Neo-Doctores" gewidmet ist, unter ihnen auch Strauchs Nachfolger, Matthaeus Kolweis (1620–1695), zweimaliger Rektor der Universität Wien.
Das eigentliche Gratulationsgedicht der Publikation muss aufgrund seiner besonderen graphischen Gestaltung auf einer Falttafel (31 x 19,3 cm) Platz finden: Um ein zentrales Element Lilia laurus amat („Lilien liebt der Lorbeer“), das auf die Promotion der Lilienfelder Kandidaten als laureatio Bezug nimmt, sind in sechs Ringen lateinische Wörter und Wortgruppen in einzelnen Segmenten angeordnet, wobei die Zahl der Segmente von innen nach außen in Zwölferschritten (12–24–36–48–60–72) zunimmt. Die Textelemente sind abgesehen von der Reihenfolge, die durch die Folge der Kreise von innen nach außen und umgekehrt festgelegt ist, frei kombinierbar: Jedes Element des ersten Ringes kann mit jedem des zweiten usw. zusammengestellt werden. In immer neuen Kombinationen oder „Permutationen“ bilden sich versus retrogradi (vorwärts und rückwärts) zu lesende Distichen, die in beiden Richtungen einen Text im korrekten Metrum (Hexameter + Pentameter) ergeben und das Lob der (im ersten Ring erscheinenden) Widmungsträger verkünden. Die einzelnen Textparzellen müssen sich also sowohl in ein metrisches Schema als auch in ein syntaktisches Gefüge einpassen lassen, wobei dessen Stellen variierend – meist durch Synonyma – besetzt werden.
Die inhaltliche Bandbreite der so gewonnenen Verse reicht vom Banalen über noch einigermaßen Akzeptables zum kaum mehr Verständlichen:
Lilia laurus amat, Matthaeum laudat Apollo,
grammata commendat carmine dulcisono.
„Lilien liebt der Lorbeer, Matthaeus (sc. Kolweis) lobt Apoll.
Er empfiehlt seine Schriften mit süß tönendem Lied.“
Lilia laurus amat Corneli, servat et auget.
Pallada Sol profert, sydera celsa colunt
„Die Lilien des Cornelius (Strauch) liebt der Lorbeer, er bewahrt und vermehrt sie.
Die Sonne bringt Pallas (die Göttin der Weisheit) hervor, die erhabenen Gestirne verehren sie.“
Lilia laurus amat, Kolweis mox fulcit Amorque
Sydera dat tellus, laudis amore suae.
„Lilien liebt der Lorbeer, bald stützt sie Kolweis und auch Amor.
Die Erde schenkt Gestirne, aus Liebe zu ihrem Ruhm.“
Es ist weniger der Inhalt der Verse, denn die schiere Vielfalt, die beeindrucken soll, und so wird die mathematisch exakte Zahl der möglichen Permutationen vorgerechnet: 4 299 816 960 elegische Distichen und – wie schon auf dem Titelblatt angegeben – die doppelte Anzahl von versus simplices, nämlich 8 599 633 920. Es folgen Aufstellungen, die diese Zahl in zeitlichen und räumlichen Dimensionen vorstellbar machen wollen: Berechnet wird die Zeit, die benötigt würde, um alle Möglichkeiten durchzuspielen, wenn man zehn Distichen pro Minute ansetze, die körperlichen Bedürfnisse des Menschen bei einem zwölfstündigen Arbeitstag berücksichtige, dabei eventuell noch Feiertage abziehe: Über 3.000 Jahre würde es dauern! Kalkuliert wird weiters das Papier, um die Verse aufzuschreiben, sowie dessen Preis (ein Punkt, der als wenig vornehm jedoch kurz abgetan wird), und schließlich der damit zu füllende Bibliotheksraum in ,Regalmetern‘.
Diese Berechnungen zeigen, dass die Heiligenkreuzer Gratulanten selbst nur einen Bruchteil der möglichen Verse zusammengesetzt und geprüft haben können, sie machen aber Rezipienten der Publikation neugierig und regen zum Ausprobieren an: Das Konstrukt ist auf weitere Verwendung ausgerichtet. Dies mag die geistige Fruchtbarkeit der Neo-Doctores symbolisieren, erscheint jedoch noch weitaus passender zu einem Anlass, der grundsätzlich in die Zukunft weist: Der Wiener Jesuit Engelbert Bischoff (1654–1711) schließt seine Festpublikation Regium maiestatis et amoris epithalamium zur Hochzeit des Habsburgers Josef I. (1678–1711) mit Amalia Wilhelmine von Braunschweig-Lüneburg (1673–1742) im Jahr 1699 mit einem ähnlichen Kreisgedicht, in dessen Zentrum – einem Ehering – mit Vivite io sponsi das Lebehoch für die Brautleute steht. Wie die aktuell geschlossene Ehe den Fortbestand der Dynastie durch Nachkommenschaft sichern soll, so will das von einem Lorbeerkranz umgebene Systema infinitum durch seine literarische Fruchtbarkeit für ewigen Ruhm sorgen.
Als Textgeneratoren, die formelhafte Elemente der lateinischen Dichtersprache gemäß metrischen Schemata verknüpfen, können die barocken Kreisgedichte als einfache Vorstufe zur Textproduktion mit einem "large language model" betrachtet werden, das mit einer Vielzahl an Textdokumenten trainiert wurde. Es lag daher nahe, ChatGPT einem Vergleich zu unterziehen: Ein Test mit dem prompt „Bilde mir 10 lateinische elegische Distichen, die mit lilia laurus amat beginnen und das Lob der Lilien zum Inhalt haben“ lieferte zum Teil überraschend gute Resultate, freilich auch Unmetrisches und Unsinniges:
Lilia laurus amat, caelestia dona deorum,
quae sine labe nitent, quae sine nube valent.
„Lilien liebt der Lorbeer, himmlische Gaben der Götter,
die ohne Makel glänzen, ohne Gewölk gedeihen.“
Lilia laurus amat, sed plus amat ipsa Lyaeum,
cum vitis niveas implicat arte comas
„Lilien liebt der Lorbeer, doch noch mehr liebt er selbst den Lyaeus/den Wein,
[Anm. der Autorin: ipsa wäre sinnvoller, wenn ChatGPT lilia als femin im Singular versteht! Will man korrekt konstruieren, ist ipsa jedoch auf den im Lateinischen weiblichen Lorbeer zu beziehen]
wenn er die weißen Haare der Rebe kunstvoll flicht.“
Führt man den Vergleich mit ChatGPT weiter, so bietet das Kreisgedicht nicht nur den Ergebnistext, sondern gegenüber den bei ChatGPT im Hintergrund laufenden Algorithmen macht die Präsentationsform zugleich den Prozess der Texterstellung sichtbar: Aus dem Kreisgedicht ließe sich ja eine Art „Gedichtmaschine“ zusammenbauen, indem die einzelnen Ringe ausgeschnitten, auf Scheiben geklebt und auf einen durch den Mittelpunkt gezogenen Faden montiert werden. Die Scheiben könnten von einem Benützer so lange gedreht werden, bis die in einer Linie liegenden Segmente den gewünschten Vers ergeben. Derartige drehbare Elemente kennen wir aus modernen Kinderbüchern (etwa zum Erlernen der Uhr), doch schon ein astronomisches Prachtwerk des 16. Jahrhunderts, das Astronomicum Caesareum des Petrus Apianus (1495–1552) fungiert zugleich als wissenschaftliches Instrument mit drehbaren Himmelsmodellen: Sie erlauben es, die Bahnen von Gestirnen zu simulieren und damit ihre Position – etwa zum Geburtstag eines Herrschers – zu bestimmen. Die UB Wien besitzt eines der wenigen intakten, voll funktionstüchtigen Exemplare.
Die Möglichkeit einer ähnlichen Montage kann helfen, über die Funktion der Texterstellung hinaus eine weitere Sinnebene des Lilienfelder/Heiligenkreuzer Kreisgedichts zu erschließen. Schon der Titel Coelum („Himmel“) suggeriert ja Affinität zur Astronomie, die sich auf der Falttafel konkretisiert: Das Kreisgedicht erscheint eingebettet in ein Sternenmeer und umgeben von unterschiedlichen Kosmosmodellen (links oben nach Ptolemäus; links unten nach Kopernikus; rechts oben nach Tycho Brahe). Diese Rahmung legt nahe, dass das Kreisgedicht ebenfalls als Darstellung der Himmelssphären wahrgenommen werden soll, und dies wird in der Widmungsadresse auch explizit dargelegt: Sie richtet sich an den Abt als Sonne seines Klosters und die Neo-Doctores als diese Sonne umkreisende Planeten. Nach antiker Ansicht, die zumeist auf Pythagoras zurückgeführt wurde und über Vermittlung lateinischer Autoren in Mittelalter und früher Neuzeit Geltung hatte, erzeugen die einzelnen Sphären bzw. auf ihnen sitzende Sirenen/Intelligenzen bei ihrer Umdrehung Töne, die zu himmlischer Musik, der sogenannten Sphärenharmonie, zusammenklingen. Diese ist zwar auf Erden unhörbar, konnte jedoch von der Seele vor ihrer Einkörperung an ihrem himmlischen Ursprungsort wahrgenommen werden: Alle irdische Musik wird als erinnernde Nachahmung dieser kosmischen gedeutet, wobei Musik in einem weiten Sinn als Musenkunst verstanden werden kann, also Dichtung miteinschließt.
Das Kreisgedicht des Coelum Liliveldense könnte dieses Abbildverhältnis von Dichtung und Sphärenharmonie im Blick haben, bzw. in extremer Konsequenz visualisieren: Die Benützung des Konstrukts durch einen die Ringe zumindest in seiner Imagination drehenden Leser entspricht der Rotation der Himmelssphären; indem sich bei der Drehung Textbausteine harmonisch, d.h. regelkonform, zu Versen zusammenschließen, wird Dichtung mithilfe des Konstrukts zu einem Nachvollzug der Sphärenharmonie. Während ein moderner Rezipient dazu tendiert, den technischen Aspekt zu betonen und das ,maschinell‘ erzeugte Gedicht in scharfen Gegensatz zu ,wahrer‘ Dichtung zu stellen, basiert das Kreisgedicht auf einem Kunstverständnis, das künstlerisches Schaffen als Imitation der ewigen Ordnung des Kosmos sieht. Mag die barocke KI in Hinblick auf ihre beschränkte Textbasis modernen Modellen wie ChatGPT klar unterlegen sein, der Anspruch ihrer Schöpfer ist ein weitaus höherer: Nicht ein Abbild der menschlichen, sondern der kosmisch-göttlichen Intelligenz soll sie sein.
Am 2. August 2025 ging an der Universität Wien die Dreijahrestagung der Society for Emblem Studies (XIIIth International SES Conference) zu Ende. Sie wurde im Gedenken an die Pionierin der österreichischen Emblemforschung Dr. Grete Lesky (1898–1982) vom Institut für Klassische Philologie, Mittel- und Neulatein abgehalten. Grete Lesky dissertierte 1922 als eine der ersten Frauen in Österreich im Fach Klassische Philologie.
Die Vorträge der Konferenz widmeten sich Bild-Text-Konfigurationen vom Spätmittelalter bis in die Moderne, wobei ein Schwerpunkt beim Einsatz moderner (auch KI-gestützter) Technologien zur Erschließung und musealen Präsentation von Emblembüchern und emblematischen Ausstattungsprogrammen in sakralen und profanen Räumen lag.
Coelum Liliveldense sole reverendissimo et amplissimo domino, domino Cornelio apud Campum Liliorum meritissimo praesule … suarum intelligentiarum … carminibus … triumphum celebrans labore et ingenio septem philosophorum apud sanctam crucem Cisterciensem ordinem professorum et in Academia Viennensi studentium, Viennae Austriae: typis Matthaei Cosmerovii in aula Coloniensi [1649]. Exemplar im Bestand der UB Wien
BISCHOFF, Engelbert: Regium majestatis et amoris epithalamium, augusta inter omina omnia hymenaeo Austriaco auspicatissima propositum, et augustis neosponsis Josepho I, Romanorum, Hungariaeque regi coronato, archiduci Austriae ac Wilhelminae Amaliae, duci Hannoveranae, dum augustis dexteris jungerentur, profundissima adgeniculatione dicatum, Viennae Austriae: apud Susannam Christinam, Matthaei Cosmerovij … viduam [1699 chronogr.]. Exemplar im Bestand der UB Wien
CRAMER, Florian: permutations – optima unrest. Online-Publikation
CRAMER, Florian: Kombinatorische Dichtung und Computernetzliteratur (Kasseler Fassung). 19. Oktober 2000. Online-Aufsatz
ERNST, Ulrich: Carmen figuratum. Geschichte des Figurengedichts von den antiken Ursprüngen bis zum Ausgang des Mittelalters, Köln/Weimar/Wien 1991. Exemplare im Bestand der UB Wien
KLECKER, Elisabeth: Sphärenklänge? Zum Hintergrund permutativer Kreisgedichte des Barock. In: Die Dichter und die Sterne. Beiträge zur lateinischen und griechischen Literatur für Ludwig Braun. Hrsg. von Ulrich Schlegelmilch & Tanja Thanner, Würzburg 2008 (= Würzburger Jahrbücher für die Altertumswissenschaft, Neue Folge Beiheft 2), S. 200–226. Online verfügbar
RÖMER, Franz: Neuplatonische Sphärenmusik in panegyrischem Kontext. In: Maria-Christine Leitgeb, Stéphane Toussaint, Herbert Bannert (Hgg.), Platon, Plotin und Marsilio Ficino. Studien zu den Vorläufern und zur Rezeption des Florentiner Neuplatonismus. Internationales Symposium in Wien, 25.–27. Oktober 2007. Wien 2009 (Wiener Studien, Beiheft 33), S. 199–206. Online verfügbar
Text: ao. Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Elisabeth Klecker