Otto Freundlich (1878–1943), 1912
Bleistiftzeichnung auf schwarzem Karton
Maße Karton: 24 x 19,5 cm, Maße Zeichnung: 21 x 12 cm
Handschriftliche Beschriftung: "Frl. Rosa Schapire, Paris, Juli, 1912, mit herzlichem Gruß von Otto Freundlich"
Aus dem Paul F. Lazarsfeld Archiv, Nachlass von Paul Martin Neurath
Die Zeichnung zeigt ein von Otto Freundlich (1878–1943) angefertigtes Portrait von Rosa Schapire (1874–1954), an dessen Rand der Künstler eine Widmung schrieb: "Frl. Rosa Schapire, Paris, Juli, 1912, mit herzlichem Gruß von Otto Freundlich" . Das Bild stammt aus dem Besitz von Rosa Schapire, der Tante des Soziologen Paul Martin Neurath (1911–2001), dessen Nachlass sich zum Teil im Paul F. Lazarsfeld Archiv befindet. In diesem Bestand finden sich weitere persönliche und besondere Sammelstücke von Rosa Schapire: Dazu zählen Fotografien und Briefe, aber auch Glückwunsch- und Postkarten sowie Zeichnungen und Drucke. Ein Großteil dieser Kunstwerke sind Originale von Künstler*innen der Moderne wie etwa Karl Schmidt-Rottluff (1884–1976), Erich Heckel (1883–1970), und anderen Mitgliedern der Künstlergruppe Brücke.
Rosa Schapire war die Schwester von Paul M. Neuraths Mutter Anna Schapire (1877–1911). Die beiden Schwestern wuchsen in Brody (Galizien, heute Ukraine) in einer angesehenen jüdischen Familie auf. Früh gefördert durch Privatunterricht, erlernten sie neben Deutsch und Polnisch auch Russisch und Französisch. 1893 zog Rosa Schapire mit ihrem Vater nach Hamburg, ihre Schwester Anna folgte ihnen zwei Jahre später. Bereits 1897 veröffentlichte Rosa Schapire ihren ersten Text, in dem sie ihre gesellschaftspolitischen Ansprüche darlegt: der Aufsatz "Ein Wort zur Frauenemanzipation" erschien in den Sozialistischen Monatsheften. Ihrer feministischen und sozialistischen Aktivitäten wegen standen Rosa und ihre Schwester Anna in Hamburg unter Beobachtung der Politischen Polizei. Anna Schapire wurde 1898 aufgrund ihres Aktivismus aus der Stadt ausgewiesen. Sie verließ Hamburg und schloss ihr sozialwissenschaftliches Studium 1906 in Bern ab. Anschließend ging Anna Schapire nach Wien und war unter anderem als Übersetzerin und Publizistin tätig. 1907 heiratete sie den Soziologen und Nationalökonomen Otto Neurath (1882–1945), mit dem sie auch zusammenarbeitete. 1911 brachte Anna Schapire das gemeinsame Kind Paul auf die Welt; nur wenig später starb sie an den Folgen der Geburt.
Rosa Schapire selbst studierte in Bern und Heidelberg und promovierte 1904, als eine der ersten Frauen in Deutschland im Fach Kunstgeschichte, mit einer Dissertation über den Architekturmaler Johann Ludwig Ernst Morgenstern. Ihr Lebensmittelpunkt lag nach dem Studienabschluss wieder in Hamburg, wo sie weiterhin freiberuflich als Kunsthistorikerin arbeitete: sie hielt Vorträge, veranstaltete Führungen zur Vermittlung von Kunst und organisierte Ausstellungen. Außerdem war sie als Schriftstellerin, Übersetzerin und Mitbegründerin sowie Herausgeberin von Zeitschriften tätig. Rosa Schapires ganze Leidenschaft galt der modernen Kunst, deren Vertreter*innen sie tatkräftig förderte. Bereits seit 1907 war sie unterstützendes Mitglied der Künstlervereinigung "Brücke". 1916 gründete sie gemeinsam mit Ida Dehmel (1870–1942) und weiteren Mäzeninnen den "Frauenbund zur Förderung deutscher bildender Kunst". Zusätzlich baute Rosa Schapire eine umfangreiche eigene Kunstsammlung auf. Vorwiegend sammelte sie Werke von Expressionist*innen, im Besonderen von Karl Schmidt-Rottluff.
Mit vielen Künstler*innen verband Rosa Schapire eine enge Freundschaft, etwa mit Karl Schmidt-Rottluff und Otto Freundlich. Als Dank für ihre engagierte Arbeit sowie zu Feier- und Geburtstagen erhielt Rosa Schapire originale Kunstwerke und Glückwunschkarten, die zeigen, wie sehr sie geschätzt wurde. So gratuliert etwa die Malerin Emma Ritter (1878–1972) auf der unten gezeigten Postkarte im September 1921: „Liebe Rosa – zu Deinem Geburtstag meine herzlichsten Glückwünsche! Auf ein Gutes Jahr! […]“.
Der radikale Bruch im Leben und in der Karriere von Rosa Schapire vollzog sich mit der nationalsozialistischen Machtübernahme. Einen Eindruck davon gibt die Schilderung ihres Neffen Paul M. Neurath, in einem Brief, den er am 18.11.1936 an seine Patin Frau Korkisch schrieb: „Die Tante in Hamburg hat nichts zu leben und wird gerade noch als Existenz erhalten von ihren Freunden, die ihr gelegentlich einmal einen Privatvortrag verschaffen. In der Kunsthalle, in der sie dreißig Jahre für ihre Wahlheimat gewirkt hat, darf sie nicht mehr sprechen. (Dort hielt sie ihre Volkskurse über Kunst und Kunstbetrachtung.)“.
Wie viele andere wurde auch Rosa Schapire 1937 bei einer nationalsozialistischen Propagandaausstellung konfiszierter zeitgenössischer Kunst diffamiert. Die Plastik "Großer Kopf" aus dem Jahr 1912 von Otto Freundlich wird auf dem Plakat der Wanderausstellung "Entartete Kunst" entwürdigt. 1939 musste Rosa Schapire schließlich emigrieren, wobei ihre Bibliothek, ihre von Schmidt-Rottluff entworfenen Möbel und ein Großteil ihrer Kunstsammlung von den Nationalsozialisten geraubt wurden. Ihr Freund Otto Freundlich konnte nicht mehr emigrieren und wurde nach Flucht und Internierungen 1943 nach Polen deportiert und ermordet. Viele der Gemälde und Skulpturen Otto Freundlichs wurden vernichtet oder gingen verloren.
Im Exil in London engagierte sich Rosa Schapire weiterhin für zeitgenössische Kunst und verfasste Ausstellungs- und Buchrezensionen. Auch die erste Ausstellung von Werken Karl Schmidt-Rottluffs in Großbritannien wurde von ihr veranlasst. In den 1940er Jahren übernahm sie Rechercheaufträge für ihren Schwager Otto Neurath. Rosa Schapire starb 1954 in London. Ihre Sammelstücke wurden durch ihre Nachlassverwalter an verschiedene Institutionen weltweit übergeben, so auch die meisten der – von bekannten Künstler*innen gestalteten – Karten und Zeichnungen. Ein kleiner Teil dieser Werke mit persönlichen Grüßen und Widmungen an Rosa Schapire gelangte über das Erbe von Paul M. Neurath in das Paul F. Lazarsfeld Archiv.
Das Paul F. Lazarsfeld Archiv befindet sich an der Fachbibliothek Soziologie und Politikwissenschaft und wurde 1980 von Paul M. Neurath und dem Soziologen Anton Amann gegründet. Der sozialwissenschaftliche Archivbestand setzt sich aus der Sammlung Paul Felix Lazarsfeld, dem wissenschaftlichen Nachlass von Paul M. Neurath sowie den Bibliotheken der beiden Wissenschaftler zusammen.
Ein Teilnachlass von Paul und Margarete Neurath befindet sich beim Verein für Geschichte der ArbeiterInnenbewegung (VGA, Wien).
2024 fand im Paul F. Lazarsfeld Archiv das Symposium Paul Martin Neurath: Über-Leben und Werk statt. Der Tagungsband ist in Vorbereitung. Begleitend zum Symposium wurden aus dem Archivbestand Schriften Paul M. Neuraths, Sachkinderbücher von Marie Neurath (1898–1986) sowie Karten, Zeichnungen, Briefe und Fotografien aus dem Besitz Rosa Schapires ausgestellt. Die präsentierten Objekte können in der Fachbibliothek besichtigt werden.
Link zur Website des Paul F. Lazarsfeld Archivs auf der Website der FB Soziologie und Politikwissenschaft
Wissen für alle
ISOTYPE – die Bildsprache aus Wien
Die Ausstellung im Wien Museum wird vom 6. November 2025 – 5. April 2026 zu sehen sein. Gezeigt werden auch Leihgaben aus der Bibliothek von Paul M. Neurath.
Link zur Ausstellungswebsite
AMANN, Anton / DOMES, Michael / FELDER, David / SIBITZ, Eva / SPITTA, Anna: Die erfolgreiche Immigration des Paul M. Neurath in die USA. Ein Beitrag zur Wissenschaftsforschung. Projektbericht erstellt im Rahmen des Projektes OeNB Nr. 14993, gefördert vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank. Wien 2013. Online verfügbar
BEHR, Shulamith: Rosa Schapire. In: Shalvi/Hyman Encyclopedia of Jewish Women. Jewish Women's Archive. (27 February 2009). Digitale Publikation (Website)
BRUHNS, Maike: Kunsthistorikerin mit einer Passion für den Expressionismus. Die Sammlerin Rosa Schapire. In: Kunstsammlerinnen. Peggy Guggenheim bis Ingvild Goetz. Hg. von Dorothee Wimmer, Christina Feilchenfeldt und Stephanie Tasch. Berlin 2009, S. 117–127. Exemplar im Bestand der UB Wien
DOGRAMACI, Burcu / SANDNER, Günther (Hg.): Rosa und Anna Schapire – Sozialwissenschaft, Kunstgeschichte und Feminismus um 1900. Berlin 2017. Exemplare im Bestand der UB Wien Hier sind die Bibliografien von Rosa und Anna Schapire enthalten
FRIEDRICH, Julia (Hg.): Otto Freundlich - Kosmischer Kommunismus. München 2017. Katalog zur Ausstellung "Otto Freundlich - kosmischer Kommunismus" im Museum Ludwig, Köln (18.02.–14.05.2017) und im Kunstmuseum Basel (10. 06.–10.09.2017). Exemplare im Bestand der UB Wien Hier ist das Werkverzeichnis von Otto Freundlich enthalten
SCHULZE, Sabine (Hg.): Rosa. Eigenartig grün. Rosa Schapire und die Expressionisten. Ostfildern 2009. Katalog zur Ausstellung "Rosa. Eigenartig Grün. Rosa Schapire und die Expressionisten" im Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg (28.08.-15.11.2009) und der Kunstsammlung Chemnitz (6.12.2009-21.02.2010). Exemplar im Bestand der UB Wien
WIETEK, Gerhard: Dr. phil. Rosa Schapire. Sonderdruck aus: Jahrbuch der Hamburger Kunstsammlungen, Band 9. Hamburg 1964. S. 114–159. Exemplar im Bestand der UB Wien
NEURATH, Paul M.: Brief an Fr. Korkisch vom 18.11.1936, Paul F. Lazarsfeld-Archiv, Signatur: PFLA, NAK1-Korkisch4.
Text: Mag.a Katharina Vigl | Fotos: Beate Lang, Bakk. MSc