Wachsmodell von Polygordius

Wachsmodell von Polygordius

Trochophora von Polygordius, späteres Stadium [nach Hatschek 1878]
Wachsmodellserie 30, Modell Nr. 4, Adolph oder Friedrich Ziegler
Wachs, auf einem Sockel aus Holz und Messing
Maße: 18,5 x 11 x 7 cm
Aus der Zoologischen Sammlung des Departments für Evolutionsbiologie


Von der Mitte des 19. Jahrhunderts an erlangte das vergleichende Studium der Entwicklung unterschiedlicher Tierarten einen fixen Platz im Methodenrepertoire der Zoologie. Insbesondere gefördert durch die populären Theorien des deutschen Biologen Ernst Haeckel (1834–1919), sah man in der Untersuchung der Entwicklungsstadien von Organismen eine vielversprechende Möglichkeit, um stammesgeschichtliche Verwandtschaftsbeziehungen zwischen Tiergruppen entschlüsseln zu können. Einer der bedeutendsten – und in vielen Belangen ausgesprochen fortschrittliche – Vertreter dieses neuen Forschungsfeldes war zweifelsohne der österreichische Zoologe Berthold Hatschek (1854–1941), auf dessen Ergebnissen die hier gezeigten Objekte unmittelbar beruhen.

Die beiden hier miteinander vorgestellten Objekte aus den Sammlungen des Departments für Evolutionsbiologie vermitteln einen Eindruck davon, in welcher Form und auf welchem Wege vor über einem Jahrhundert aktuelle Forschungsergebnisse in Anschauungsmaterial für die Universitätslehre übersetzt wurden. Auf Grundlage von Hatscheks Arbeit zur Entwicklung von Ringelwürmern (Hatschek 1878), kam es zu einer Kooperation mit den Wachsmodelleuren Adolf (1820–1889) und Friedrich Ziegler (1860–1936) in Freiburg i.B. Die beiden Künstler fertigten anatomisch exakte und handwerklich hochwertig gearbeitete Wachsmodelle vor allem aus dem Bereich der zoologischen und humanen Entwicklungsbiologie an. Die Modelle fanden weltweite Verbreitung im universitären Unterricht. Eine der Modellserien, die Vater und Sohn Ziegler in Zusammenarbeit mit mehreren Wissenschaftlern um 1886 entwickelten, stellte verschiedene Larvenstadien mariner Wirbelloser dar. Sie bezog unter anderem die von Berthold Hatschek am marinen Ringelwurm Polygordius angestellten Beobachtungen (Hatschek 1878) mit ein (Ziegler 1893). Das daraus resultierende Modell einer Trochophora-Larve dieses Ringelwurmes fungierte als Stellvertreterin dieser Larvenform. Ein Zeitgenosse Hatscheks, der berühmte Entwicklungsbiologe August Weismann (1834–1914), verfasste eine lobende Notiz zum Erscheinen dieser Modelle: „Die Serie [...] ist wohl geeignet, eine lebendige Anschauung dieser Entwicklungsformen zu geben, und eignet sich gut sowohl zur Demonstration in der Vorlesung, als besonders auch zur Aufstellung in einer Instituts-Sammlung“ (Weismann 1887: Zoologischer Anzeiger 10, S. 244). Der Erfolg und damit wohl auch die weite Verbreitung der Modelle lässt sich unter anderem daran ermessen, dass diese noch mindestens dreißig Jahre später in unveränderter Form von der Firma Ziegler angeboten wurden. Wann genau das Modell vom Zoologischen Institut der Universität Wien erworben wurde ist bislang ungeklärt, wahrscheinlich aber bereits relativ bald nach dessen Veröffentlichung. Ob Hatschek dieses und die weiteren in der Sammlung vorhandenen Modelle dann tatsächlich in der Lehre nutzte, lässt sich heute nicht mehr feststellen.

Eine völlig andere Entstehungsgeschichte liegt dagegen hinter dem zweiten (unten zu sehenden) hier vorgestellten Objekt: Die handgemalte Wandtafel gehörte zum älteren, wohl schon vor 1900 angefertigten bzw. angeschafften Bestand der Zoologischen Institute. Weder ausführende/r Künstler/in noch die genaue Entstehungszeit ließen sich bislang genau eruieren. Auf Grund des dargestellten Motivs ist aber die verwendete Vorlage eindeutig identifizierbar (Abbildung Nr. 2 basiert auf derselben Vorlage wie das Wachsmodell). Es handelt sich auch dabei um Hatscheks 1878 erschiene Arbeit über die Entwicklung von u.a. Polygordius. Anders als das Wachsmodell, das Hatscheks zweidimensionale Illustration in ein dreidimensionales Anschauungsobjekt übersetzt, liefert diese Wandtafel – im Gegensatz zum Modell ein Einzelstück – in erster Linie eine stark vergrößerte, aber sonst weitgehend der Vorlage entsprechende Übernahme der publizierten Inhalte. Hier stand demnach die reine Verfügbarmachung von Bildinhalten für ein größeres Publikum im Vordergrund, während die Verdeutlichung der räumlichen Lagebeziehungen dem Wachsmodell zukam. Beide Objekte, sowohl Wandtafel als auch Wachsmodell, zeigen eindrücklich, wie unmittelbar und doch teilweise über welche Umwege vor eineinhalb Jahrhunderten aktuelle Forschungsergebnisse und deren Übernahme als Lehrbehelfe im universitären Unterricht miteinander verknüpft waren.

Berthold Hatschek wurde in Skrbeň (dt. Kirwein) in Mähren geboren und studierte von 1872 bis 1877 in Wien und Leipzig Medizin und Naturwissenschaften. Schon in seiner Dissertation zur Embryonalentwicklung von Faltern (Hatschek 1877), sowie in anderen – bereits während dem Studium begonnenen Untersuchungen an Ringelwürmern (Hatschek 1876) – setzte er sich mit entwicklungsbiologisch-phylogenetischen Fragen auseinander. Besonders bedeutsam waren seine darauffolgenden Studien an marinen Wirbellosen (Hatschek 1878, 1886), aus denen unter anderem die bis heute weitgehend akzeptierte Trochophora-Theorie resultierte. Selbige erkannten in der gemeinsamen Larvenform – der namensgebenden Trochophora-Larve – den Beleg einer unmittelbaren phylogenetischen Verwandtschaft von u.a. Ringelwürmern (Annelida) und Weichtieren (Mollusca). Diese Annahme wird aktuell durch moderne genetische Untersuchungen weiterhin gestützt (Nielsen 2004, Dunn et al. 2008). Auch andere Forschungen Hatscheks sollten sich als richtungsweisend herausstellen: Seine detaillierten und über einen langen Zeitraum fortgeführten Studien an Lanzettfischchen (Branchiostoma) und Neunaugen (z.B. Hatschek 1882, 1906, 1909a, b; vgl. dazu etwa auch das Objekt des Monats vom August 2008), waren die Basis für die spätere Einführung des Lanzettfischchens als einen Modellorganismus der Entwicklungsbiologie (Müller & Nemeschkal 2015).

Hatscheks beruflicher Werdegang führte über eine etwa zehn Jahre dauernde Phase als Privatgelehrter – wohl seine wissenschaftlich produktivste Zeit –, in der er unter anderem längere Forschungsaufenthalte in Messina und an der Zoologischen Station der Universität Wien in Triest absolvierte. Erst 1885 wurde er, als Nachfolger des verstorbenen Friedrich von Stein (1818–1885), an die deutsche Karl-Ferdinands-Universität in Prag berufen, von wo er 1896 als Nachfolger von Carl Claus (1835–1899) und Leiter des II. Zoologischen Institutes an die Universität Wien wechselte. Hatschek, der offenkundig vielseitig interessiert war, beschäftigte sich in diesem Lebensabschnitt neben seinen eigentlichen zoologischen Forschungen unter anderem mit der Konstruktion technischer Hilfsmittel für biologische Untersuchungen, wie bspw. eines Schlammsaugers oder einer Schließvorrichtung für Schließnetze (Cori 1897a, b). Er war Mitbegründer und erster Obmann der 1897 neu gegründeten Sektion für Planktonkunde der Zoologisch-Botanischen Gesellschaft in Wien und darüber hinaus ein Gründungsmitglied der Soziologischen Gesellschaft in Wien (Müller & Nemeschkal 2015).

Durch den bereits in den 1920er und 1930er Jahren an der Universität Wien stark präsenten Antisemitismus, sah sich Hatschek als Jude mit einem zunehmend repressiven universitären Umfeld konfrontiert. Mit der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten wurde er schließlich 1938 seines universitären Amtes enthoben, später enteignet und aus seiner Wiener Wohnung vertrieben. Er starb am 18. Jänner 1841 in Wien (Walzl & Schreiber 2018). Sein Begräbnis am Wiener Zentralfriedhof erfolgte im kleinsten Kreise. Sein Name wurde nicht auf dem Grabstein (1. Tor 19-1-104) angebracht. Dies wird nun, auf Betreiben der Universität Wien, mehr als 80 Jahre nach Hatscheks Tod, nachgeholt. Darüber hinaus wird eine Gedenktafel auf dem Grab an die Leistungen dieses bedeutenden Zoologen erinnern. Die Arbeiten dazu stehen kurz vor der Fertigstellung.

    Gut 150 Jahre nach Hatschkes Untersuchungen stehen Trochophora-Larven heute wieder im Fokus der Forschung an der Universität Wien. Am Department für Evolutionsbiologie beschäftigt sich die Marine invertebrates group um Univ.-Prof. DDr. Andreas Wanninger unter anderem mit Genexpressionsmustern im Tochophora-Stadium verschiedener Weichtiere (z.B. Schulreich et al. 2022). Die dabei gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen ein genaueres Verständnis der Merkmalsevolution und Entwicklungsgeschichte dieser Tiergruppe. Präsentiert werden die neusten hierzu gewonnenen Forschungsergebnisse unter anderem auf dem vom Department vom 8.–12. August 2022 veranstalteten 5th International Congress on Invertebrate Morphology.

Literatur:

CORI, Carl J.: Ein horizontal fischendes Schliessnetz. In: Zeitschrift für wissenschaftliche Mikroskopie und für mikroskopische Technik 14, 1897, S. 178–184. Online verfügbar
CORI, Carl J.: Ein Schlammsauger. In: Zeitschrift für wissenschaftliche Mikroskopie und für mikroskopische Technik 14 (1897), S. 184–189. Online verfügbar
DUNN, Casey W. / HEJNOL, Andreas / MATUS, David Q. / PANG, Kevin / BROWNE, William E. / SMITH, Stephen A. / SEAVER, Elaine / ROUSE, Greg W. / OBST, Matthias / EDGECOMBE, Gregory D. / SØRENSEN, Martin V. / HADDOCK, Steven H.D. / SCHMIDT-RHAESA, Andreas / OKUSO, Akiko / KRISTENSEN, Reinhard Møbjerg / WHEELER, Ward C. / MARTINDALE, Mark Q. / GIRIBET, Gonzalo: Broad phylogenomic sampling improves resolution of the animal tree of life. In: Nature 452 (2008), S. 745–749. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte der Lepidopteren. In: Jenaische Zeitschrift für Naturwissenschaften 11 (n.F. 4), 1877, S. 115–148.
HATSCHEK, Berthold: Beiträge zur Entwicklungsgeschichte und Morphologie der Anneliden. In: Sitzungsberichte der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften. Mathematisch-naturwissenschaftliche Classe: Erste Abtheilung 74 (1876), S. 443–461. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Studien über Entwicklung des Amphioxus. In: Arbeiten aus dem Zoologischen Institute der Universität Wien und der Zoologischen Station in Triest 4 (1882), S. 1–88. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Studien über Entwicklungsgeschichte der Anneliden. In: Arbeiten aus dem Zoologischen Institute der Universität Wien und der Zoologischen Station in Triest 1 (1878), S. 277–404. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Entwicklung der Trochophora von Eupomatus uncinatus, Philippi (Serpula uncinata). In: Arbeiten aus dem Zoologischen Institute der Universität Wien und der Zoologischen Station in Triest 6 (1886), S. 121–148. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Studien zur Segmenttheorie des Wirbeltierkopfes. 1 Mitteilung: Das Acromerit des Amphioxus. Gegenbaurs morphologisches Jahrbuch 35 (1906), S. 1–14. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Studien zur Segmenttheorie des Wirbeltierkopfes. 2 Mitteilung: Das primitive Vorderende des Wirbeltierembryos. Gegenbaurs morphologisches Jahrbuch 39 (1909), S. 497–525. Online verfügbar
HATSCHEK, Berthold: Studien zur Segmenttheorie des Wirbeltierkopfes. 3 Mitteilung: Über das Akromerit und über echte Ursegmente bei Petromyzon. Gegenbaurs morphologisches Jahrbuch 40 (1909), S. 480–499. Online verfügbar
MÜLLER, Gerd B. / NEMSCHKAL, Hans: Zoologie im Hauch der Moderne: Vom Typus zum offenen System. In: FRÖSCHL, Karl Anton / MÜLLER, Gerd B. / OLECHOWSKI, Thomas / SCHMIDT-LAUBER, Brigitta (ed.) Reflexive Innensichten aus der Universität Wien: Wiener Disziplingeschichten zwischen Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. V&R unipress (2015), S. 355–369.
NIELSEN, Claus: Trochophora larvae: Cell-lineages, ciliary bands, and body regions. 1. Annelida and Mollusca. Journal of Experimental Zoology (Mol Dev Evol) 302B (2004), S. 35–68.
SCHULREICH, Stephan M. / SALAMANCA-DÍAZ, Dadid A. / ZIEGER, Elisabeth / CALCINO, Andrew D. / WANNINGER, Andreas: A mosaic of conserved and novel modes of gene expression and morphogenesis in mesoderm and muscle formation of a larval bivalve. Organisms, Diversity & Evolution. in press, 2022. Online verfügbar
WALZL, Manfred G. / SCHREIBER, Monika: Neues aus der Vergangenheit: Die persönlichen Dokumente von Professor Berthold Hatschek (1854–1941) und seiner Familie am ehemaligen zoologischen Institut der Universität Wien. In: Schriften des Vereins zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse 154 (2018), S. 17–42. Online verfügbar
ZIEGLER, Friedrich: Prospectus über die zu Unterrichtszwecken hergestellten embryologischen Wachsmodelle. Freiburg i. Baden 1893.

Wachsmodell von Polygordius

Text: Mag. Simon Engelberger, Julia Harlfinger MSc MSc BSc, Univ.-Prof.in Mag.a Dr.in Mihaela Pavličev; Fotos: Mag. Simon Engelberger